Aurian, die ganz in ihrem Kummer aufging, reagierte kaum, als Anvar sich neben sie setzte. »Weine nicht«, murmelte er, denn er wußte nicht recht, wie er sie trösten sollte. »Es ist alles gut – ich bin ja hier.«
»Na, und wenn schon? Du glaubst, ich wäre eine Lügnerin!« Anvar prallte zurück angesichts der Gehässigkeit in Aurians Stimme. Da er ihre aufgewühlten Gefühle spürte, zwang er sich selbst zur Ruhe.
»Es wäre nicht das erste Mal, daß ich mich in bezug auf dich geirrt hätte. Du hast mir, seitdem wir uns getroffen haben, immer wieder gezeigt, daß ich mich irrte, und ich bin froh darüber.« Da sah sie ihn endlich an – mit einem flehentlichen Blick, der ihm wie ein Dolch ins Herz fuhr. Er versuchte, sie in seine Arme zu nehmen, aber sie schob ihn von sich.
»Der Drache«, begann sie zitternd und ohne ihn anzusehen. Plötzlich schien sie es sehr eilig zu haben, mit ihm zu reden. »Du wolltest doch wissen, was aus dem Drachen geworden ist. Nun, er ist tot. Ich habe ihn getötet – so, wie ich die Stadt zerstört habe.«
Anvar zwang sich, ruhig zu bleiben, denn er wußte es besser, als sie zu unterbrechen, jetzt, da sie endlich zu sprechen begonnen hatte.
Aurian bemühte sich nun nach Kräften, ihre Stimme unter Kontrolle zu halten. »Die Stadt, Anvar, sie war überhaupt nicht da. Was wir gesehen haben – was wir erlebt haben –, war die weit entfernte Vergangenheit. Als das Drachenvolk Dhiammara verließ, zerstörte es die Stadt, versiegelte sie jedoch im Augenblick ihrer Zerstörung in der Zeit, bis der Führer des Schwertes kommen würde. Sobald das geschah, wurde der Zauber aufgehoben, und die Stadt begann zusammenzubrechen.« Ihre Stimme brach, und sie schluchzte. »Ich wollte dem Drachen helfen, ich wollte ihn abermals aus der Zeit nehmen, aber er hat es nicht zugelassen. Er sagte, er habe es vorgezogen, zurückzubleiben, und nun, da ich gekommen sei, sei seine Aufgabe erfüllt.« Eine Träne rollte ihr über die Wange. »Er war nicht besonders liebenswert, Anvar – er war arrogant und hinterhältig und übellaunig, aber … Oh, er war wunderschön und klug – und er sprach mit Musik und Licht! Er hat so lange gewartet, und nach allem, was wir wissen, könnte er der letzte seiner Art gewesen sein, und es war meine Schuld!« Aurian begann wieder zu weinen und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. »Ich habe ihn nicht einmal nach seinem Namen gefragt.«
»Schscht.« Anvar strich der Magusch übers Haar. Ihr Kummer schmerzte ihn, aber gleichzeitig hätte er am liebsten getanzt vor Erleichterung. Wie konnte diese Frau, die den Tod von Schönheit und Mut und Selbstaufopferung betrauerte, sich dem Bösen zuwenden? »Es war nicht deine Schuld«, tröstete er sie. »Du hast es dir nicht ausgesucht, derjenige zu sein, auf den er wartete. Dieser Weg wurde für dich bestimmt; für uns alle. Der Drache hatte recht, Aurian. Er starb Jahrhunderte vor unserer Zeit. Was du gesehen hast, war ein Geist, wenn du so willst – in einer Stadt der Geister.«
Mit einem nur halb ausgesprochenen Fluch drehte Aurian sich um und starrte ihn an. Sie hatte ihre wilden Augen weit aufgerissen und eine Hand erhoben, um sie über ihren Mund zu legen.
»Woher wußtest du das?«
»Was immer es ist, ich habe es nicht gewußt. Willst du es mir nicht erzählen?«
»Nein, das will ich nicht. Du würdest mir nur wieder nicht glauben!«
»Sieh mal, es war falsch von mir –«
Aurian brachte ihn mit einer schroffen Handbewegung zum Schweigen. »Diese Macht, mit der wir es hier zu tun haben – nun, du hattest recht, besorgt zu sein. Die Versuchung, dem Bösen anheimzufallen, wie Miathan es getan hat, ist groß, und wir müssen einander ständig bewachen. Das ist auch der Grund, weshalb ich dir eigentlich alles hätte erzählen sollen. Es ist nur so, daß … . Ich konnte es vorher nicht. Es hat zu weh getan. Aber …« Mit leiser, zitternder Stimme erzählte sie ihm von ihrer Begegnung mit der Erscheinung Forrals und davon, wie er sie zu dem grünen Turm geführt hatte.
Anvar war sprachlos vor Entsetzen. Forrals Geist – der sie heimsuchte – der sie beobachtet … Er schauderte, denn er wollte das nicht akzeptieren, wollte es nicht glauben. Irgendwie fand er schließlich seine Stimme wieder. »Aurian – vergib mir –, aber bist du sicher, daß du dir das nicht nur eingebildet hast?«
»Wie könnte ich, du Narr? Forral hat mich zu dem Turm gebracht. Wie sonst hätte ich ihn so schnell finden können? Ich wußte ja, daß du mir nicht glauben würdest.«
»Ich glaube dir ja – und es tut mir leid, daß ich vorher an dir gezweifelt habe.« Er schluckte. »Ich wünschte nur, ich hätte dich nicht gezwungen, mir davon zu erzählen, das ist alles. Es macht mir angst, Aurian.«
»Nach dem, was ich an dem Abend, als ich Forral sah, zu dir gesagt habe …« Aurian wandte den Blick von ihm ab und zog die Decke fester um sich.
»Damit hat das nichts zu tun.«
»Anvar«, unterbrach sie ihn entschlossen, »ich schulde dir eine Entschuldigung deswegen. Wir alle haben unsere Rolle in diesem schrecklichem Stück gespielt – du, ich und Forral selbst, obwohl es mir weh tut, das zuzugeben. Aber ich mache dich wirklich nicht für seinen Tod verantwortlich, genausowenig wie er – das weiß ich jetzt. Was sonst hättest du tun können? Allein konntest du den Erzmagusch nicht bekämpfen. Forrals Reaktion – und Miathans – war nicht deine Schuld. Du hast nur versucht, zu helfen.«
Anvar seufzte. »Ich wünschte nur, ich könnte mich ebenso leicht freisprechen.«
»Ist das der Grund, warum du mit mir gekommen bist? Schuldgefühle?« Ihre Stimme klang scharf.
Anvar fuhr sich geistesabwesend mit den Fingern durchs Haar, denn er hätte dieses Gespräch am liebsten nicht fortgesetzt, aber irgendwie fühlte er sich trotzdem gezwungen, ihre Frage zu beantworten. »Zuerst war es das – Schuldgefühle und Angst, um ehrlich zu sein. Später, nachdem du mich im Sklavenlager gerettet hast, habe ich mir selbst eingeredet, es sei Treue und Dankbarkeit.« Er sah der Magusch in die Augen. »Aber ich habe mich geirrt. Jetzt will ich nichts anderes, als mit dir Zusammensein und mich um dich und das Kind zu kümmern.«
»Das Kind?« Die beiden Worte enthielten eine Welt von Fragen.
»Das Kind liegt mir am Herzen, weil ich Forral etwas schuldig bin, aber auch weil – nun ja, ich habe das Gefühl, es gibt ein Band zwischen uns. Es ist wie ich ein Abkömmling von Magusch und Sterblichen, nicht ganz das eine und nicht ganz das andere. Ich weiß, was das für ein Gefühl ist, Aurian, und obwohl es nicht das Kind meines Körpers sein kann, ist es doch das Kind meines Herzens – nicht zuletzt wegen der Gefühle, die ich für seine Mutter hege.«
Aurian sah ihn verwundert an. »Das habe ich nicht gewußt. Irgendwie habe ich das Ganze niemals so gesehen.«
»Es macht dir nichts aus?« Anvar hielt den Atem an.
Sie schüttelte den Kopf. »Wie sollte es mir etwas ausmachen? Außerdem, jetzt, da meine Kräfte mich bald verlassen werden – nun, ich schäme mich nicht zuzugeben, daß ich dich brauche, Anvar – daß wir beide dich brauchen.« Endlich lächelte sie wieder, und Anvar mußte sich zusammennehmen, um das zarte neue Band zwischen ihnen nicht zu zerstören, indem er sie augenblicklich an sich zog und küßte. Statt dessen umarmte er sie und zerzauste ihr Haar und versuchte, die Zärtlichkeit in seiner Stimme hinter Entschlossenheit zu verbergen.
»Nun, da wir das jetzt erledigt haben, würde ich vorschlagen, daß wir etwas schlafen. Es ist schon bald Zeit zum Aufbruch.«
Anvar erwachte, als der Abend dämmerte, und Aurian lag fest schlafend in seinen Armen. In ihrem unbewachten Schlummer hatte der Glanz des Stabes ein wenig nachgelassen, und sie sah erschöpft und verletzlich aus und wieder sehr menschlich. Unter der dünnen Decke war nun auch die leichte Wölbung ihres Bauches zu sehen, und eine tiefe Zärtlichkeit für die Magusch und ihr ungeborenes Kind überflutete ihn. Widerspenstige Strähnen ihres Haares, für dessen Pflege sie seit dem radikalen Schnitt auf dem Weg nach Taibeth nichts mehr getan hatte, lagen kreuz und quer über ihrem Gesicht und bewegten sich sanft im Rhythmus ihres Atems. Anvar lächelte und dachte an ihr Haar, als es ihr noch in einem Schwall feurigen Rots über die Taille gereicht hatte. Und er dachte daran, wie sehr er es in jener Nacht, bevor Forral gestorben war, genossen hatte, es für sie zu kämmen. Wie wunderbar sich sein seidenes Gewicht angefühlt hatte, während es ihm durch die Finger lief! Schon damals habe ich sie geliebt, dachte er. Ich habe sie geliebt und konnte es mir selbst nicht eingestehen. Wie hätte ich auch, da ich nichts was als ihr Diener? Wie kann ich es eigentlich wagen, es jetzt zuzugeben?