Obwohl ihre Gewänder klebrig an ihr hafteten, zitterte Aurian am ganzen Körper. Ihr Herz hämmerte, ihr war schwindlig und übel. Sie konnte kein Essen bei sich behalten und war zu schwach und zu fiebrig, um sich selbst zu heilen. Alles, was sie tun konnte, war, sich verzweifelt an den Knauf ihres Sattels zu klammern und zu versuchen, auf dem Pferd zu bleiben. Als sie schließlich die letzte Oase erreichten, mußte Anvar sie herunterheben, und sie spürte kaum, daß er das tat. Aber als er sie sanft auf den Boden bettete, hinderte etwas die Magusch daran, in das willkommene Vergessen des Schlafs zu sinken. Ein Schrei hallte durch ihre Gedanken – ein leiser, mitleiderregender Schrei um Hilfe. Aurian versuchte sich aufzusetzen und wehrte sich schwach gegen Anvars Hände, die sie festhalten wollten. Sie ignorierte den Schmerz, der durch ihren Kopf schoß. »Shia!« keuchte sie. »Wo ist Shia?«
Es kostete Anvar große Überzeugungskraft, Yazour dazu zu überreden, Shia zu suchen, aber Aurian regte sich so sehr auf, daß der Krieger schließlich nachgab. Es dauerte eine ganze Stunde, bis er wiederkam – die große Katze hing schlaff vor ihm über seinem taumelnden, verschreckten Pferd. In der Zwischenzeit hatte Nereni den fiebrigen Leib der Magusch mit kühlem Wasser aus der Oase abgewaschen, während Bohan ihr Wasser zu trinken brachte – soviel sie nur bei sich behalten konnte. Anvar war unruhig auf und ab gegangen, um einmal nach Aurian zu sehen und dann wieder mit langen Schritten zurückzulaufen, um hinaus in die Dünen zu spähen. Sein staubiges Gesicht zeigte tiefe Sorgenfalten, während er sich dafür verfluchte, daß er der Magusch nicht helfen konnte – und dafür, daß er sich solche Sorgen um sie gemacht hatte, daß er Shia vergessen hatte. Er half Bohan, die Katze von dem zitternden Pferd herunterzuheben, und legte sie neben Aurian. Dann strich er ihr über den glänzenden, schwarzen Kopf, der nun stumpf und rauh war von Staub, und lauschte dem schwachen Keuchen ihres gequälten Atems. Nach einer Weile öffnete Shia die Augen, und das Licht darin war nur ein schwaches Echo des früheren goldenen Glanzes. Ihr Gedanke ging so verschwommen durch Anvars Kopf wie ein dahinschwindender Fetzen Rauch. »Leb wohl.«
Anvar umklammerte ihre blutenden Pfoten und spürte, wie der Lebensfunke in der großen Katze flackerte, spürte, wie das Schlagen ihres großen Herzens zu stocken begann. »Leb wohl, meine Freundin«, flüsterte er.
»Zur Hölle mit ›Leb wohl‹!« Aurians Stimme schoß durch Anvars Trauer und traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Er drehte sich um und sah, wie sie sich aufsetzte; ihre Augen hatten ein grimmiges Glühen angenommen, und ihr Gesicht war bleich, aber entschlossen. Bevor er sie daran hindern konnte, hatte sie mit ihren Gedanken Shia erreicht und eine unwiderrufliche Verbindung mit ihrer sterbenden Freundin hergestellt.
Anvar fing den schlaffen Körper der Magusch auf, als er zur Seite glitt, jetzt ohne die Kontrolle ihres Geistes, der weit weg in einer undurchdringlichen Trance war, in der er darum kämpfte, Shias Seele festzuhalten. Hilflos und verzweifelt klammerte Anvar sich an Aurian, unfähig sie zu erreichen, und eisige Furcht griff nach seinem Herz. Er wußte, was sie da versuchte – hatte sie nicht dasselbe für ihn getan, damals im Sklavenlager, als sie seinen fliehenden Geist gesucht und sicher wieder heimgebracht hatte? Aber diesmal war sie schwach, erschöpft und krank. Diesmal hatte sie keine Kraft für einen solchen Kampf, keine Kraft, um Shia davon abzuhalten, sie mit sich hinunter in den Tod zu ziehen. Und sie würde keine Kraft mehr haben, zurückzukehren. Verzweifelt streckte Anvar seinen Geist aus, wie Aurian es ihn gelehrt hatte. Aber obwohl er suchte und suchte, wußte er doch, daß sie für ihn verloren war.
»Anvar!« Das schwache Echo einer vertrauten Stimme drang flackernd in sein Bewußtsein und riß ihn zurück. Eine Hand rüttelte grob an seinen Schultern. Zu seiner Überraschung sah Anvar den westlichen Horizont im letzten Licht erglühen. So lange war er weg gewesen? Furcht drohte ihn zu ersticken, aber dann spürte er die leise Bewegung des Atems in dem Körper, den er immer noch mit seinen verkrampften, schmerzenden Armen umklammert hielt, sah in dem leisen Heben und Senken der Rippen der großen Katze eine Antwort auf Aurians Bemühungen. Sie lebten also noch – und Aurian kämpfte weiter! Yazour ließ seine Schultern los und hockte sich vor ihm in den offenen Eingang des provisorischen Schutzzeltes aus Decken, das sie über Shia, der Magusch und Anvar erbaut hatten.
»Bei allem, was die Götter jemals ausgebrütet haben! Mann, ich war verzweifelt! Ich dachte schon, wir hätten euch alle drei verloren!« Yazours Gesicht zeigte eine Mischung aus Erleichterung, Sorge und Ärger. »Was ist passiert, Anvar? Was können wir tun? Hast du den Himmel gesehen? Die Stürme können jetzt jederzeit über uns hereinbrechen.« Er zeigte auf den westlichen Himmel, der am Horizont verhangen und trüb war und durchschossen wurde von einzelnen Strahlen eines leuchtenden, orangefarbenen Lichtes.
Anvars Stimme kratzte in seiner ausgedörrten Kehle, aber seine Worten klangen selbst in seinen eigenen Ohren seltsam ruhig. »Aurian ist mit Shia verbunden – wir können sie nicht bewegen. Du mußt uns verlassen. Nimm die anderen und geh jetzt. Bringt euch in Sicherheit, so lange ihr es noch könnt. Rettet euer eigenes Leben!«
»Und wirst du mit uns kommen?« Yazours Stimme war sehr ruhig.
Anvar wußte, daß es keine Hoffnung gab – er konnte nichts tun, um der Magusch und Shia zu helfen. Sie waren bereits so gut wie tot. Das vernünftigste wäre, mit den anderen zu gehen, sich und den Stab der Erde in Sicherheit zu bringen und in Aurians Namen den Kampf mit Miathan aufzunehmen. Er wußte das alles nur zu gut – er wußte sogar, daß die Magusch es genau so von ihm erwartete –, aber er blickte hinab auf Aurians reglose Gestalt und erinnerte sich an seinen Zorn in Dhiammara, als er dachte, sie sei in dem Kristall dieses Spinnenwesens gestorben. Er erinnerte sich an das Entsetzen, das ihn durchschossen hatte, als der große Stein in dem Tunnel zu fallen schien und er sich lieber unter den Felsbrocken geworfen hatte, um mit ihr zusammen zu sterben, als die Qualen ihres Verlustes noch einmal zu durchleiden. Die Brust der Magusch hob und senkte sich noch immer, ein Leben, das nur noch ein Zerrbild seiner selbst war. Er wußte besser als irgend jemand sonst um die Kraft ihres sturen Willens. Wie konnte er sie verlassen, solange sie noch lebte? Wie konnte er durch die vor ihm liegenden Jahre gehen mit dem Wissen, daß er sie im Stich gelassen hatte, hilflos in der Wüste eines fremden Landes?
Anvar blickte zu Yazour auf und schüttelte den Kopf. »Stell keine so dummen Fragen«, sagte er.
35
Der Brunnen der Seelen
Die Tür war uralt, ihr dickes, wettergegerbtes Holz so grau und schwer wie Stein und die von der Zeit abgestumpfte Schnitzerei darauf im Laufe der Jahre verwittert. Als Anvar die Hand darauf legte, schienen vage Schatten und verschlungene Muster auf ihn zuzuspringen, beleuchtet von silbrigem Maguschfeuer – einem Feuer, das sich zischend aus seinen Fingern ergoß und seine Hand in eine lodernde Fackel verwandelte. Anvar zuckte zusammen, angewidert von dem Anblick seiner eigenen Knochen, die düster durch das weißglühende Fleisch hindurchschienen, aber er spürte kein Gefühl von Hitze oder Schmerz. Lautlos schwang die Tür auf, und er trat hindurch. Als er seine Finger vom schweren Holz der Tür nahm, verlöschte das Feuer in seiner Hand und tauchte seine Umgebung in schattenhafte Düsternis.
Grauschimmernder Nebel schlang sich um ihn und blockierte seine Sicht so wirkungsvoll wie ein Vorhang. Dann hob er sich – ebenfalls wie ein Vorhang – und enthüllte eine gebeugte, in einen grauen Kapuzenmantel gehüllte Gestalt. Die Erscheinung hielt einen Stab in der Hand und stützte sich auf eine Art und Weise darauf, die den Eindruck großen Alters erweckte. In der anderen Hand hielt sie eine Laterne, die einen einzelnen, silbernen Strahl auf die weißen, feuchtglänzenden Kieselsteine eines Weges warf. Als die Gestalt ihren Kopf drehte, fing Anvar das intelligente Glitzern eines durchdringenden, dunklen Auges und das Gewirr eines angegrauten Bartes im Schatten der Kapuze auf. In diesem Augenblick erschien Anvar der alte Mann sehr vertraut, als hätte er ihn schon immer gekannt, und doch konnte er sich nicht daran erinnern, ihm je begegnet zu sein oder überhaupt jemals in seinem Leben jemanden wie ihn getroffen zu haben. Um genau zu sein, stellte er mit einem Schaudern fest, konnte er sich an überhaupt nichts erinnern. Er runzelte die Stirn. Wie war er hierhergekommen? Wo war er hergekommen? Als könne er Anvars verwirrte Gedanken lesen, schenkte der alte Mann ihm ein ermutigendes Lächeln und bedeutete ihm, ihm zu folgen.