In ihrem Quartier lauschte Meiriels Aurians leisem Weinen und bedauerte, daß es notwendig gewesen war, das Kind auf solche Weise aus ihrem vertrauten Zuhause zu reißen. Als es endlich still wurde, schlich sie sich an Aurians Bett, um sicherzugehen, daß das Kind wirklich schlief. Dann beauftragte sie einen Diener damit, auf ihren Schützling achtzugeben, warf sich einen Umhang über die Schultern und machte sich über den frostversilberten Hof auf den Weg zum Maguschturm. Das rote Licht, das hoch hinter den blutrot verhängten Fenstern des höchsten Stockwerks brannte, sagte ihr, daß der Erzmagusch in seinen Gemächern war.
»Wie geht es mit dem Kind, Meiriel?« Der Erzmagusch war wie alle Abkömmlinge seines Volkes sehr groß. Mit seinem langen, silbrigen Haar, seinem dichten Bart, seiner knochigen Hakennase, seinen dunklen, brennenden Augen und seinem hochmütigen Gehabe sah er wie der Inbegriff des mächtigsten Magusch der Welt aus. Seine scharlachrote Robe fegte über den kostbaren Teppich, als er das Zimmer durchquerte, um Meiriel einen Kelch Wein einzuschenken. Als sie Platz nahm, bemerkte die Heilerin auch die schlanke, in ein silberfarbenes Gewand gehüllte Gestalt Eliseths, die neben dem Fenster im Schatten saß. Meiriel runzelte die Stirn. Sie hatte die eiskalte, ränkevolle Wettermagusch nie gemocht und hatte ihr auch niemals über den Weg getraut.
»Ich dachte, dies sollte eine private Besprechung sein«, wandte sie ein.
Miathan reichte ihr einen bis zum Rand gefüllten Kristallkelch. »Nun komm schon, Meiriel, sei nicht töricht«, schalt er sie. »Seit wir deine Nachricht erhalten haben, hat Eliseth mir geholfen, Pläne zu schmieden. Wenn das, was du sagst, stimmt, hat Geraints Kind Talente, die uns nützlich sein können; Talente, die eine ganz spezielle Handhabung erforderlich machen. Ich brauche dich doch wohl kaum daran zu erinnern, daß wir heutzutage auf die äußerste Loyalität aller Magusch angewiesen sind. Unser Volk ist dahingeschwunden. Der Maguschkodex schränkt unsere Kräfte ernstlich ein, und die Uneinigkeit unter diesen erbärmlichen Sterblichen wird immer stärker. Noch kontrolliere ich die Stimme der Garnison im Rat der Drei, aber Rioch wird über kurz oder lang in den Ruhestand treten, und unter seinen Kriegern gibt es keinen ausreichend entgegenkommenden Nachfolger. Der neue Repräsentant der Kaufleute, dieser rüpelhafte Emporkömmling Vannor, macht mir jetzt schon Schwierigkeiten.«
Der Erzmagusch runzelte die Stirn und trank einen Schluck Wein. »Da eine Maguschfrau während der Schwangerschaft ihre Kräfte verliert, hat es für unser Geschlecht immer nur wenig Nachwuchs gegeben, und jetzt werden uns überhaupt keine Kinder mehr geboren. Wir sind den Sterblichen zahlenmäßig ernsthaft unterlegen. Wenn man Eilin nicht mitzählt, die sich weigert, zu uns zurückzukehren, sind wir nur noch sieben Magusch: du und ich, Eliseth und Bragar, die Zwillinge und Finbarr. Und von diesen sieben scheinen die Zwillinge obendrein noch unfähig zu sein, ihre magischen Kräfte freizusetzen, und Finbarr kommt kaum je aus seinen Archiven heraus – nichts für ungut, Meiriel. Ich weiß, daß er dein Seelengefährte ist, und es tut mir leid, daß wir deine heilenden Kräfte nicht so lange entbehren können, daß du ein Kind zur Welt bringen könntest. Und aus demselben Grunde können wir natürlich auch nicht auf Eliseth verzichten. Ihre Studien haben ein kritisches Stadium erreicht …«
»Sonst wäre ich natürlich nur allzu glücklich, das Opfer zu bringen«, warf Eliseth glattzüngig ein.
Meiriel unterdrückte eine sarkastische Erwiderung. Lügnerin, dachte sie. Alles, was du willst, ist Macht. Du würdest keinen Augenblick zögern, Miathans Kind zur Welt zu bringen, wenn er dich darum bäte. Dann wandte sie sich wieder an den Erzmagusch. »Was hat das alles mit Aurian zu tun?« fragte sie. »Du erwartest doch sicher nicht von ihr, daß sie uns ein paar neue Magusch gebärt? Das Kind ist kaum vierzehn!«
Miathan machte ein geduldiges Gesicht und sah die Heilerin eindringlich an. »Meine liebe Meiriel«, sagte er höflich. »Was für ein Vorschlag! Natürlich erwarte ich nichts Derartiges! Noch nicht, jedenfalls. Aber wir müssen in dieser Angelegenheit Weitsicht walten lassen. Sie wird nicht für immer vierzehn bleiben. Und wie du schon sagtest, ihre Kräfte umfassen möglicherweise das ganze Spektrum, und dann müssen sie zum Wohle unserer Rasse unbedingt weitergegeben werden. In der Zwischenzeit dachte ich jedoch an unsere prekäre Position bei den Sterblichen. Wenn es sich herumsprechen sollte, daß wir eine neue Magusch haben – eine, deren Kräfte, nun, sagen wir einmal, spektakulär sind –, dann werden sie es sich vielleicht zweimal überlegen, bevor sie uns in die Quere kommen. Schließlich haben sie ja bereits erlebt, wozu ihr Vater fähig war.«
»Aber das ist ja schrecklich, Miathan! Und vollkommen unmoralisch«, explodierte Meiriel. »Der Maguschkodex verbietet uns ausdrücklich, unsere Magie einzusetzen, um Macht über andere zu erlangen!«
»Natürlich tut er das, meine Liebe.« Miathans Stimme war melodiös und weich. »Aber wenn du dir den Wortlaut genau ansiehst, verbietet er nicht, daß die Leute glauben, daß ein Magusch seine Macht gegen sie einsetzen könnte. Wenn die Sterblichen nun zufällig auf eine so unerhört seltsame Idee kommen sollten, dann wäre das doch kaum unsere Schuld, nicht wahr?«
»Das ist Wortklauberei, und das weißt du auch! Du bist gefährlich nahe daran, deinen Eid auf den Kodex zu brechen, Miathan, und wenn du das tust, wirst du uns alle mit ins Verderben reißen. Hast du vor, das Kind ebenfalls zu verderben?«
Eliseth zog ihre schlanken Schultern hoch. »Du reagierst wohl ein bißchen übertrieben«, sagte sie seidenweich. »Schließlich handelt es sich doch nur um eine reine Vermutung des Erzmagusch. Alles, was er im Augenblick will, ist dem Kind helfen und ihr Vertrauen gewinnen. Wer weiß, welche Narreteien Eilin und dieser ungehobelte Sterbliche ihr in den Kopf gesetzt haben? Du weißt selbst, wie hart unsere Ausbildung ist, und das Mädchen fängt spät an. Es wird ihr an Disziplin mangeln, das wage ich zu sagen, und daher liegt eine schwere Zeit vor ihr. Das letzte, was wir wollen, ist, daß sie das Maguschvolk am Ende verabscheut – schließlich ist sie eine von uns. Also haben Miathan und ich uns etwas ausgedacht, wie wir mit dem Problem fertig werden. Es geht uns nur um ihr Wohl – das wirst du sehen, Meiriel.«
»Das wirst du bestimmt«, sagte Miathan herzlich. »Meiriel, morgen früh wirst du Aurian an Eliseth übergeben. Danach wirst du vorläufig für ihre Ausbildung nicht mehr benötigt und uns den Rest überlassen. Halt dich von dem Kind fern und misch dich nicht ein.«
»Aber …«
Miathans Gesicht versteinerte. »Das ist ein ausdrücklicher Befehl deines Erzmagusch, Meiriel. Du darfst jetzt gehen.«
Aurian konnte Eliseth vom ersten Augenblick an nicht leiden. Obwohl ihr Gesicht makellos schön war und ihr das silberne Haar wie ein schimmernder Wasserfall bis auf die Füße floß, erreichte das Lächeln der Magusch niemals ihre grauen Augen, die hart waren und kalt wie Stahl. Sie führte Aurian zu einer Kammer, die in Zukunft die ihre sein sollte – eine winzige, weiß getünchte Zelle im Erdgeschoß des Maguschturms. Mit schlichtester Einfachheit möbliert, enthielt sie lediglich ein schmales Bett, einen Tisch und einen Stuhl sowie Regale und eine Truhe, um ihre Besitztümer und Kleidungsstücke zu verstauen.