Aurian besaß nichts, was sie hätte einräumen müssen. Außer den Kleidern, die sie am Leibe trug, war ihr Schwert alles, was sie hatte. Als Eliseth es sah, runzelte sie die Stirn. »Das kannst du nicht behalten«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme. »Es ist viel zu gefährlich für ein kleines Mädchen. Gib es mir.« Sie griff nach dem Schwert.
In Windeseile hatte Aurian die Klinge aus der Scheide gezogen, wie Forral es ihr beigebracht hatte. »Wage es nicht, mein Schwert anzufassen!«
Eliseths Augen wurden schmal, und sie machte eine merkwürdige, zuckende kleine Geste mit der linken Hand. Aurian stöhnte auf, als eine kalte, durchscheinend blaue Wolke sie plötzlich einschloß. Sie konnte sich nicht mehr rühren. Ihr Körper war festgefroren. Eisige Kälte schien sich bis in ihre Knochen hineinzubohren. Eliseth stürzte sich auf sie und entriß Coronach ihren widerstandslosen Fingern. Dann blickte sie mit kalten Augen auf sie herab. »Hör mir zu, du kleines Biest«, zischte sie. »Solange du hier bist, wirst du Disziplin und Gehorsam lernen – vor allem, mir zu gehorchen –, oder du wirst unter den Konsequenzen leiden! Jetzt werde ich die Näherin holen, damit sie dir ein paar anständige Kleider anpaßt, und als Strafe für dein widerspenstiges Benehmen kannst du so bleiben, bis ich zurückkomme I«
Sie fegte aus dem Zimmer, nahm das Schwert mit sich und ließ Aurian immer noch festgefroren und unfähig, auch nur zu weinen, zurück. Obwohl sie vor Haß auf die kaltäugige Eliseth schäumte, hatte die Lektion ihre Spuren hinterlassen. Aurian hatte bereits gelernt, sie zu fürchten.
Später an jenem Tag führte Eliseth ihren in sich gekehrten und unglücklichen Schützling durch die Akademie. Dort gab es eine Menge zu sehen. Der Felsen hatte die Form einer breiten Speerspitze, die oben in der runden Einfassung der hohen Mauer endete, die die steilen Abhänge auf allen Seiten sicherte.
Das Haupteingangstor befand sich dort, wo der Schaft des Speeres hätte ansetzen müssen. Links davon stand ein kleines Pförtnerhaus. Jenseits des Tores schlängelte sich die steile Straße, die Aurian am Vortag erklommen hatte, den Damm hinunter bis zum unteren Pförtnerhaus.
Von allen Gebäuden aus konnte man in den zentral gelegenen, ovalen Hof hinabblicken, dessen Boden ein buntes Mosaik aus Steinplatten bedeckte. In der Mitte sang ein eleganter Springbrunnen sein tröstliches, plätscherndes Lied, während er gleichzeitig federzarte Wasserbögen in ein weißes Marmorbecken sandte. Vom Pförtnerhaus gesehen links befand sich Meiriels kleine Krankenstube, und daneben lagen die Küchen und die Quartiere der Dienerschaft, die an die Große Halle mit ihren hoch emporstrebenden Bogenfenstern angrenzten. Dahinter, wo die Mauer einen Bogen beschrieb, um die Akademie vom äußersten Ende des weit hervorragenden Felsens abzutrennen, stand der elegante, stolze Turm, in dem die Magusch lebten. Dem Turm gegenüber, auf der anderen Seite des Ovals, lag die riesige Bibliothek mit ihrer vielschichtigen, verschlungenen Architektur, und dahinter erstreckten sich in einem Bogen zum Haupttor hin die Seminargebäude zum Studium der verschiedenen Disziplinen der Magie. Beherrscht wurde dieser Komplex von dem massiven, weißen Wetterdom, dessen Silhouette meilenweit sichtbar war.
All diese Gebäude einschließlich des Pförtnerhauses und der bescheidenen Dienstbotenquartiere waren aus blendend weißem Marmor erbaut, der ganz von einem inneren perlmuttartigen Schimmern erfüllt war. Er war atemberaubend schön – und Aurian, verängstigt und von Heimweh geplagt, wie sie war, haßte ihn, obwohl sie alles voller Staunen betrachtete: die große Bibliothek mit ihren unbezahlbaren Archiven, den offenen Tempel hoch oben auf dem Dach des Maguschturms mit seinen großen, hoch aufgerichteten Steinen und die imposante Große Halle, die nun, da die Magusch nur noch so wenige waren, kaum mehr benutzt wurde.
Aurian lernte auch das besondere fensterlose Gebäude kennen, dessen Türen und Inneneinrichtungen aus Metall waren, damit man dort gefahrlos die Feuermagie studieren konnte. Ein niedriges weißes Gebäude enthielt einen tiefen Teich und viele Springbrunnen, Flüsse, Kanäle und Wasserfälle zum Studium der Wassermagie. Dann gab es da noch ein großes Gebäude aus Glas, das Pflanzen, Gräser und sogar einige kleine Bäume enthielt. Es erinnerte Aurian schmerzlich an den Arbeitsraum ihrer Mutter in deren Turm im Tal und war zum Studium der Erdmagie bestimmt. Aber die Gräser waren braun und verwelkt, und alle Pflanzen waren verdorrt und tot. Wenn jemals Tiere dort gehaust hatten, waren sie schon seit langer Zeit verschwunden. Eilin war die einzige lebende Magusch, die Erdmagie praktizierte, und seit sie der Akademie den Rücken gekehrt hatte, war dieser Raum sträflich vernachlässigt worden.
Der wunderbarste Ort von allen war für Aurian jedoch die gewaltige Kuppel, deren Silhouette den ganzen Maguschkomplex beherrschte. Die gewölbte Kammer innerhalb dieser Kuppel war so hoch, daß sich sogar kleine Wolken unter ihrem Dach ansammeln konnten, das über eine Vielzahl von Klappen und Öffnungen verfügte. Dies war Eliseths Raum und dem Studium der Wettermagie gewidmet, und sie machte Aurian schnell klar, daß dies die wichtigste von allen Disziplinen war. Aurian wagte nicht zu fragen, warum.
Auf dem Weg durch die Akademie stellte Eliseth Aurian auch den anderen Magusch vor. »Wir sind alle eher Einzelgänger«, sagte sie. »Die meiste Zeit sind wir mit unseren eigenen Projekten beschäftigt, und für gewöhnlich essen wir auch in unseren eigenen Räumlichkeiten, es sei denn, es findet ein Fest statt oder es gibt sonst einen besonderen Anlaß. Da dies jetzt der Fall ist, kannst du ebensogut gleich alle kennenlernen. Alle bis auf den Erzmagusch natürlich. Er ist viel zu beschäftigt, um sich um kleine Mädchen zu kümmern.« Aurian war niedergeschmettert.
Finbarr heiterte sie jedoch ein wenig auf. Sie fanden ihn unten in den Archiven, dem Kellerlabyrinth, das man unter der Bibliothek in den gewachsenen Fels hineingehauen hatte. Er saß an einem Tisch in einer kleinen Höhle, deren Wände gesäumt waren mit unzähligen Regalen voller altertümlicher Schriftrollen. Der Tisch war leer bis auf einen Schreibstift, zwei ordentliche Stapel Papier, von dem der eine bereits beschrieben war und der andere noch auf seine Benutzung wartete, sowie etwa ein halbes Dutzend Schriftrollen, die ordentlich aufgerollt und zusammengeschnürt waren. Finbarr war gerade mit der Lektüre eines dieser altertümlichen Dokumente beschäftigt und benutzte dazu das Licht einer hell glühenden Leuchtkugel, die pflichtschuldigst und mit vollkommener Stetigkeit über seinem Kopf schwebte.
»Ich sehe, du verschwendest deine Zeit immer noch mit diesem alten Unfug«, lauteten Eliseths verächtliche Grußworte.
Aurian erwartete halb, daß der Magusch vor Schreck zusammenfahren würde, denn er war vollkommen in seine Arbeit versunken gewesen, als sie eintraten. Aber er seufzte nur und legte die Schriftrolle auf den Tisch, wo die beiden ausgerollten Enden augenblicklich versuchten, sich wieder zusammenzurollen. »Bleib offen!« befahl Finbarr in scharfem Tonfall. Die Schriftrolle erzitterte, streckte sich und nahm prompt wieder die richtige Position ein.
Finbarr drehte sich nun zu ihnen um und betrachtete sie mit stechendblauen Augen. Er war sehr dünn, und sein glattrasiertes Gesicht besaß die typische, knochige Eckigkeit der Maguschgeborenen. Sein langes, braunes Haar war von grauen Strähnen durchzogen, aber sein Gesicht war weder alt noch jung, und seine Augen zwinkerten. »Heil dir, o Herrin des Donners, Gebieterin der Stürme«, begrüßte er Eliseth spöttisch. »Bist du gekommen, um mich mit einem Schneesturm eisiger Verachtung zu überziehen, oder willst du es nur auf mich herabregnen lassen und mir den Tag verderben?« Er blinzelte Aurian zu, die sich bemühen mußte, ein Kichern zu unterdrücken.