Eliseth quälte sie mit Feuermagie, ließ sie eine Kerzenflamme entzünden oder auslöschen, größer oder kleiner werden. Aber Aurian hatte nicht die geringste Vorstellung, wo sie beginnen sollte. Sie versagte auch auf dem Gebiet der geistigen Verständigung – ohnehin eine Seltenheit unter den Magusch, obwohl Aurian das nicht wußte –, da zwischen ihr und Eliseth keinerlei Freundschaft herrschte. Einen begrenzten Erfolg konnte sie im Bereich einfacher Schwebezauber und in der Erdmagie verzeichnen, während die Wassermagie ihr vollkommen verschlossen blieb. Die Magie der Luft – die das Spezialgebiet der Wettermagusch Eliseth war – hatte die Maguschfrau angesichts Aurians schwacher Leistungen von vornherein als viel zu schwierig vom Lehrplan gestrichen.
Forrals Konzentrationsübungen halfen ihr ein wenig, aber für Aurian war es ein großer Unterschied, ob sie ihren Willen auf ein bestimmtes Ziel richten oder ihren Geist zu strenger Disziplin zwingen mußte. Ein ums andere Mal war es irgendeine Kleinigkeit, die ihre Aufmerksamkeit ablenkte, und sie verlor entweder ihre mühsam gesammelten Kräfte wieder, oder sie gerieten außer Kontrolle und führten zu unglücklichen Ergebnissen. Eliseths Strafen anläßlich solcher Pannen waren erfinderisch, grausam und demütigend, und Aurian hatte schon bald Angst, die ihr gestellten Aufgaben auch nur anzugehen, da sie befürchtete, wieder einmal zu versagen. Aber auf diese Weise bekam sie nur noch mehr Schwierigkeiten mit ihrer ungeduldigen Lehrerin. Nicht einmal abends gehörte ihr ihre Zeit allein, denn Elisabeth verlangte von ihr, den gesamten Maguschkodex auswendig zu lernen, und fragte sie jeden Tag ab.
Aurian war unglücklicher und einsamer als je zuvor in ihrem Leben. Die Dinge wären vielleicht einfacher gewesen, wenn sie ihrer Mutter eine Nachricht hätte senden oder mit Finbarr und Meiriel hätte reden dürfen, aber Eliseth hielt sie praktisch wie eine Gefangene; tagsüber mußte sie pausenlos arbeiten, und abends wurde sie in ihrem Zimmer eingeschlossen. Aurian verlor ihren Appetit und konnte nicht mehr schlafen. Jede Nacht lag sie wach und wälzte sich bekümmert von einer Seite auf die andere, und jeden Morgen schien das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegensah, noch bleicher, hagerer und hohläugiger geworden zu sein. Sie wurde immer nervöser und schüchterner und brach beim geringsten Anlaß in Tränen aus. Als die Wochen zu Monaten wurden und der Frühling langsam zurückkehrte, wuchs ihre Überzeugung, daß aus ihr niemals eine richtige Magusch werden würde. Unausweichlich gewann ihre Hoffnungslosigkeit allmählich die Oberhand über ihre Furcht vor der Stadt und der großen Welt da draußen, so sehr, daß sie schließlich den verzweifelten Wunsch verspürte zu fliehen.
Endlich bot sich ihr eine Gelegenheit. Nach einem besonders qualvollen Tag schickte Eliseth sie auf ihr Zimmer und vergaß, die Tür abzuschließen. Aurian wartete atemlos bis spät in die Nacht hinein, wobei sie betete, daß die Magusch nicht zurückkehren würde, um sie doch noch einzuschließen. Dann verstaute sie ihre wenigen Kleidungsstücke in einem Laken und schlich sich aus dem Turm. Jeden Augenblick erwartete sie, eine zornige Stimme zu hören, die sie zurückrief.
Das Ganze schien beinahe zu einfach zu sein. Die Luft war mild und frühlingshaft, der Vollmond spendete ihr ausreichend Licht, und der Hof war vollkommen verlassen. Aurian huschte leise von einem Schatten zum anderen, um nach einem anderen Ausgang als dem Haupttor zu suchen, das bewacht war und sie lediglich auf die ungeschützte Straße zum Pförtnerhaus auf dem Damm führen würde. Während sie die hohe Mauer entlanglief, die den Gebäudekomplex umgab, begann sie zu verzweifeln. Es mußte doch noch einen anderen Weg ins Freie geben! Aber ihre Suche hatte sie lediglich wieder an ihren Ausgangspunkt zurückgebracht, zum Turm der Magusch. Aurian hätte sich am liebsten hingesetzt und geweint, aber eine solche Chance zur Flucht würde sich ihr vielleicht nie wieder bieten, und sie konnte es sich nicht leisten, sie zu vertun. Sie biß die Zähne zusammen und murmelte einen von Forrals Lieblingsflüchen. »Na schön«, murmelte sie, »dann werde ich eben hinüberklettern!« Auf der Suche nach einem möglichst guten Angriffspunkt auf dem glatten Stein der Mauer kroch sie in die Ecke, wo das Mauerwerk auf die abgerundete Seite des Turms traf. Und dort, versteckt im Schatten, fand sie eine kleine, hölzerne Seitentür, die tief in die Mauer eingelassen war. Aurian biß sich auf die Lippen, kämpfte mit dem großen Eisenring, der als Griff diente, und drückte dagegen. Die kleine Tür gab schließlich nach und öffnete sich. Aurian schlüpfte hindurch, und neue Mutlosigkeit überfiel sie. Vor ihr lag nicht der Weg ins Freie, sondern nur ein abgeschlossener Garten.
Von ihrem Versteck in den Büschen, die an der Mauer entlang wuchsen, sah Aurian sich den Garten nun genauer an. Er wurde offensichtlich mit großer Sorgfalt in Ordnung gehalten; kurze, gepflegte Rasenstücke, funkelnde Springbrunnen und ordentliche Beete mit zarten Frühlingsblumen schimmerten im bleichen Mondlicht. Eine warme Brise trug den Duft der Blüten zu Aurian herüber, und ein paar frühe Nachtfalter tanzten über ihnen in der Luft. Abgesehen von einem kreisförmigen Laubengang in der Mitte boten nur die Mauern mit ihrer dichten Decke aus Gebüsch und Kletterpflanzen einem Flüchtling Schutz. Und eine Mauern – die von ihr am weitesten entfernte – war nur hüfthoch. Sie konnte mühelos hinüberklettern! Aurians Herz machte einen kleinen Sprung. Aber sogleich wurde sie wieder ernüchtert. Es war die Mauer über dem Rand des steilen Felsabhangs, der wie der Bug eines Schiffs zu dem tief darunterliegenden Fluß abfiel. Entschlossen biß sie die Zähne zusammen und kämpfte ihre Verzweiflung nieder. Ich muß lediglich versuchen, die Klippe hinunterzuklettern, das ist alles, dachte sie. Vielleicht wird es ja gar nicht so schlimm. Ich würde jedenfalls lieber sterben, als noch eine Nacht in diesem Gefängnis zu verbringen!
Aurian schlich sich im Schatten der Büsche durch den Garten auf die niedrige Mauer zu. Dann sah sie plötzlich den alten Mann. Als sie durch den Garten gekommen war, hatte ihn der Laubengang verborgen, aber jetzt konnte sie ihn deutlich sehen, wie er da mit einem Hohlspaten in der Hand über einem Blumenbeet kniete. Mit pochendem Herzen drängte sie sich zurück in die Büsche, entdeckte aber zu spät, daß es sich um Rosen handelte. Die Dornen bohrten sich schmerzhaft in ihren Rücken und verfingen sich in ihren Kleidern und in ihrem Haar, aber sie wagte es nicht, einen Laut von sich zu geben oder sich aus dem Gebüsch zu befreien, obwohl der alte Gärtner vollkommen in seine Aufgabe versunken zu sein schien.
Aurian wartete. Und wartete, und betete darum, daß der alte Narr sich endlich beeilen und weggehen würde. Er hatte doch wohl nicht die Absicht, die ganze Nacht zu arbeiten? Offensichtlich nicht. Ohne aufzusehen, sagte er: »Ist es nicht ein bißchen ungemütlich da drin?« Aurian stockte der Atem, und die Dornen bohrten sich noch tiefer in ihre Haut, als sie weiter in das schützende Versteck der Büsche zurückwich.
»Du kannst ruhig herauskommen, weißt du.« Die rauhe, alte Stimme war nicht unfreundlich. »Der private Garten des Erzmagusch ist nie und nimmer ein guter Platz, um sich zu verstecken, Kind. Es heißt, selbst die Blumen flüsterten ihm Geheimnisse in die Ohren.«
Mit einem Keuchen sprang Aurian aus den Rosenbüschen heraus, wobei sie sich die Kleider an den spitzen Dornen aufriß. Der alte Mann lächelte. »So ist es schon besser. Dieser Garten hat schon seit mehr Jahren, als ich zählen kann, kein hübsches Mädchen mehr gesehen.« Aus der Tasche seines geflickten, alten Rocks holte er eine kleine Flasche Wein hervor sowie ein ordentlich in einen sauberen, weißen Stoff gewickeltes Päckchen. »Ich wollte gerade etwas essen«, sagte er. »Magst du Brot und Käse?«