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Er war offensichtlich nicht ganz richtig im Kopf. Aurian bewegte sich langsam auf die niedrige Mauer zu. »Nein danke«, sagte sie. »Ich fürchte, ich habe keine Zeit.«

»Unfug. Es ist auf jeden Fall besser, mit vollem Magen davonzulaufen als mit leerem, sage ich immer.«

»Woher weißt du, daß ich fliehen will?« Die Worte waren ausgesprochen, bevor sie sie hätte zurückhalten können.

Er zuckte mit den Schultern. »Das ist doch ziemlich offensichtlich. Ich würde es an deiner Stelle allerdings nicht hier am Felshang versuchen. Bisher hat das noch niemand geschafft, und du wirst sicherlich scheußlich aussehen, wenn du mit gebrochenen Knochen da unten auf den Steinen liegst.«

Aurian starrte ihn niedergeschlagen an. Eine einsame Träne kullerte ihr über die Wange.

»So, und nun komm«, sagte der alte Mann freundlich, »iß ein wenig zu Abend und erzähl mir alles. Vielleicht kann ich dir helfen.«

Es war das erste Mal, daß Aurian Wein trank, und es endete damit, daß sie den Löwenanteil der Flasche bekam. Das ungewohnte Getränk löste ihre Zunge, und es dauerte nicht lange, da hatte er ihr die ganze Geschichte ihres Lebens entlockt, die mit ihren Schwierigkeiten und ihrem Elend an der Akademie endete. Der alte Mann hörte ihr ernst zu und warf nur von Zeit zu Zeit eine kurze Frage ein. Als ihr wieder einmal die Tränen kamen, gab er sogar sein Taschentuch. Schließlich war sie mit ihrer Geschichte am Ende, und er streckte ihr seine Hand hin. »Komm mit mir«, sagte er sanft. »Es wird Zeit, daß wir die Dinge wieder ins rechte Lot bringen.«

Gehorsam folgte ihm Aurian durch den Garten und den kleinen Nebeneingang. Erst als sie am Maguschturm angekommen waren, stockte sie plötzlich. Der alte Narr konnte nicht ganz bei Trost sein! »Ich kann nicht!« keuchte sie. »Eliseth ist da drin – und der Erzmagusch!« Sie versuchte, sich von ihm loszureißen, aber er hielt sie unerbittlich fest, und seine dunklen Augen bohrten sich in die ihren.

»Mein liebes Kind, hast du es denn noch nicht erraten? Ich bin der Erzmagusch!«

Aurian wäre um ein Haar in Ohnmacht gefallen. Sie hatte sich beim Erzmagusch höchstpersönlich bitter über die Akademie beklagt. Er hatte sie dabei erwischt, wie sie seinen privaten Garten betreten und versucht hatte, wegzulaufen. Es war ihr unmöglich zu sprechen, und sie zitterte so heftig, daß ihre Beine unter ihr nachzugeben drohten.

Miathan legte beruhigend einen Arm um ihre Schultern. »Hab keine Angst, Kind«, sagte er. »Wenn ich irgend jemandem wegen dieser Angelegenheit die Ohren lang ziehe, dann bestimmt nicht dir.« Aurian zögerte immer noch, denn die stählerne Härte, die plötzlich in seiner Stimme lag, machte ihr angst. Der Erzmagusch blickte auf sie herab und seufzte. »Nun komm schon, Mädchen. Ich werde dich schon nicht in eine Kröte verwandeln. Ich werde dich vielmehr zu einer erstklassigen Magusch machen.« Mit diesen Worten lächelte er ihr noch einmal ermunternd zu. Es war so ein strahlendes, freundliches Lächeln, daß Aurians Befürchtungen wie Schnee in der Sonne zerschmolzen.

Als sie seine Gemächer erreicht hatten, rief der Erzmagusch einen schläfrigen Diener zu sich und bestellte ein zweites, weit üppigeres Mahl, als es das erste gewesen war. Dann setzte er Aurian in einen weichen Sessel neben dem Feuer, während er seine geflickten, alten Gärtnerkleider gegen die prachtvolle, scharlachrote Robe seines Amtes eintauschte. Sie sah sich unterdessen um, voller Ehrfurcht für die prachtvollen Möbel, den tiefen, weichen Teppich und die goldbestickten Wandbehänge, die überall im Zimmer hingen. Wirklich, dieses Gemach wäre eines Königs würdig gewesen. Es war himmelweit entfernt von ihrer kahlen, kleinen Zelle im Erdgeschoß.

Das Essen kam mit verblüffender Schnelligkeit, wenn man bedachte, daß die Küchenangestellten aus ihren Betten geholt werden mußten, um es zuzubereiten. Aurian betrachtete die verführerischen Speisen mit einem verwirrten Blick – viel zuviel für zwei. Sie fragte sich voller Nervosität, ob der Erzmagusch von ihr erwartete, daß sie das alles aß. Und das Mahl selbst! Eilin hatte wenig Zeit zum Kochen gehabt, und das Essen bei ihr war stets gut, aber einfach gewesen; Eliseth dagegen schien geglaubt zu haben, daß Brot und Milch auf jeden Fall genug für sie wären. Jetzt hatte sie Fleischstücke vor sich, die ganz unkenntlich waren unter den köstlichen Soßen, und Gemüse und Früchte, die in kunstvollster Weise zubereitet waren. Sehr zu ihrer Verlegenheit hatte Aurian bei einigen der exotisch anmutenden Speisen nicht die geringste Ahnung, was sie mit ihnen tun sollte. Nahm man sie einfach mit den Fingern, oder wäre das ein schreckliches Vergehen? Miathan schien sich ihrer mißlichen Lage jedoch bewußt zu sein. Er bestand darauf, sie selbst zu bedienen, und sobald er sie zögern sah, erklärte er ihr die raffinierten Gerichte, die er ihr reichte. Von seiner Freundlichkeit ermutigt und gestärkt vom Wein, der langsam eine schwindelerregende Wirkung zeigte, begann Aurian, sich zu entspannen und das Essen zu genießen. Während sie aßen, erklärte ihr Miathan, daß es ein Mißverständnis gegeben habe und daß er von nun an ihre Ausbildung persönlich überwachen werde. Aurian überlief es plötzlich eiskalt. »Aber – aber Eliseth sagt, ich sei nutzlos«, gestand sie ihm beschämt.

Miathan zog die Augenbrauen hoch. »Was? Die Tochter von Geraint und Eilin nutzlos? Das glaube ich nicht!« Er streckte die Hand aus, um die einzige Kerze, die in einem silbernen Leuchter in der Mitte des Tisches brannte, auszulöschen. Plötzlich war das ganze Zimmer in Dunkel getaucht; das einzige Licht kam von den lodernden Flammen im Kamin. »Aurian, würdest du bitte die Kerze für mich anzünden, ich sehe ja gar nicht mehr, was ich esse«, sagte der Erzmagusch.

Aurian schienen die Sinne zu schwinden. Je mehr sie versuchte, ihre verworrenen Gedanken zu konzentrieren, um so schlimmer wurde es. Was würde er ihr antun, wenn sie versagte? Plötzlich schloß sich Miathans starke Hand um die ihre, und seine warme Stimme durchschnitt das Chaos ihrer Gedanken. »Entspann dich, Kind. Denk an die Flamme. Stell sie dir im Geiste vor. Zuerst ist es nur ein glühender kleiner Fleck, der sich an den Docht klammert. Dann beginnt das Wachs am Docht zu schmelzen und zu zischen – du kannst es riechen –, und die kleine Flamme erglüht und wächst …«

Aurians Augen weiteten sich. Es passierte tatsächlich! Sanftes Licht ergoß sich bis in die Ecken des Zimmers, als ihre kleine Flamme aufflackerte und immer größer wurde. »Ich habe es geschafft«, rief sie triumphierend und schlug sich dann voller Entsetzen mit der Hand auf den Mund, als eine wild lodernde Feuersäule wie in Antwort auf ihre Begeisterung von der Kerze aufschoß und die Decke versengte. »Oh!« Aurian erstickte die Flamme automatisch, wie sie es zu Haus so oft bei den Feuerbällen getan hatte. »Es tut mir leid«, flüsterte sie und wich vor Miathan zurück.

Der Erzmagusch warf den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen. »Wahrhaftig!« rief er. »Das habe ich verdient! Ich sehe, daß ich in Zukunft sehr vorsichtig sein muß, wenn ich dich um etwas bitte!«

Aurian war sprachlos. »Ihr meint – es ist in Ordnung? Aber ich habe gerade Eure Decke ruiniert.«

»Kümmere dich nicht um meine Decke, mein Liebes. Die Diener werden das schnell wieder in Ordnung bringen«, sagte Miathan. »Wichtiger ist, daß du bewiesen hast, daß du kein hoffnungsloser Fall bist, sondern über ein sehr machtvolles Talent verfügst. Wir müssen dir lediglich beibringen, es einzusetzen – was dir ja sehr gut gelungen ist, nachdem ich es dir erst einmal erklärt habe –, und dann mußt du lernen, deine Kraft zu kontrollieren. Du hast es nicht geschafft, deine Verbindung mit der Flamme zu lösen, verstehst du, so daß sie einfach auf deine Gefühle reagiert hat.«

»Werdet Ihr mir zeigen, wie ich es machen muß?« fragte Aurian eifrig.