Aurian schnaubte verächtlich und wandte sich ab, um einen Blick direkt nach unten zu werfen, in der Hoffnung, Forral zu erspähen. Sie entdeckte ihn auch tatsächlich – verstrickt in eine Auseinandersetzung mit einem der Kaufleute. Dann gefror ihr schier das Blut, als sie ein dünnes, tödliches Flammenband sich einen Weg durch die Menge bahnen sah. Die Fackelträger kamen immer näher! Bei den Göttern! Wenn die Barrikade Feuer fing, war Forral verloren! Angetrieben von schrecklicher Angst, rasten Aurians Gedanken. Es gab nur eine Möglichkeit, diesen Wahnsinn zu beenden – und nur für sie gab es diese Möglichkeit. Regen, dachte sie. Ich muß Regen bringen! Und doch zogen sich ihre Eingeweide vor Entsetzen zusammen, als sie sich daran erinnerte, was ihr zugestoßen war, als sie das letzte Mal versucht hatte, ihre magischen Kräfte zu benutzen. Sie dachte an ihr hoffnungsloses Umherirren in dem dunklen Labyrinth, ihre Furcht, ihre Hilflosigkeit. Sie hatte seit damals ihre Magie noch nicht wieder benutzt – würden ihr ihre Kräfte immer noch gehorchen? Würde sie dasselbe Schicksal wieder erleiden? Sie hatte keine wirkliche Erfahrung mit der Wettermagie, die ohnehin eine schwierige und erschöpfende Angelegenheit war. Aber sie mußte Forral retten …
Ihre Finger klammerten sich um das abgeschrägte, metallene Geländer des Balkons, und Aurian zwang, wie man es sie gelehrt hatte, ihr Bewußtsein aus ihrem Körper heraus. Als sie den Himmel absuchte, fluchte sie leise. Blau. Helles, makelloses Blau, das zum Horizont hin in weiß flirrender Hitze verblaßte. Wo waren die Wolken, die Eliseth nach Nexis bringen wollte? Aurian erinnerte sich an das, was sie aus Finbarrs archaischen Büchern über die großräumige Wetterentwicklung gelernt hatte. Die Wolken mußten von Westen kommen. Jetzt, da sie in der Lage war, ihre ganze Kraft auf eine einzige Richtung zu konzentrieren, zwang Aurian ihren Geist weiter und weiter hinaus. Ah! Dort – weit draußen über dem westlichen Ozean …
Eine Explosion von Flammen und ein wilder Jubelschrei der Menge brachten Aurian schlagartig wieder zu sich. Sie klammerte sich einen Augenblick lang an das Geländer, schwindlig und orientierungslos nach der jähen Rückkehr in ihren Körper. Dann sah sie es. Die Wagen brannten! »Forral!« Aurian war sich nicht bewußt, daß sie seinen Namen laut ausgerufen hatte. Die Wolken waren zu weit weg – wie konnte sie eine solche Masse Luft und Wasser rechtzeitig herbekommen?
In diesem verzweifelten Bruchteil einer Sekunde spürte Aurian die Hitze der Flammen, die die Karren verzehrten – spürte den Zorn des Mobs wie eine weitere Wand aus Feuer, die mit pulsierendem Haß auf sie einstürmte. Plötzlich schien das Gesicht Geraints, ihres Vaters, aus lange vergessener Erinnerung ihrer frühesten Kindheit vor ihr aufzuleuchten. Sie konnte seine Stimme hören: »Die Energie nimmt viele Formen an, und ein kluger Mensch kann sie sich in jeder Form zunutze machen. Starke Gefühle – Zorn, Angst, Liebe –, all das kann man nutzen, um die Kräfte der Magie zu speisen …«
Aurian zögerte keine Sekunde, zweifelte nicht einen Moment. Dazu war keine Zeit. Sie ließ die wahnsinnige, wilde Energie des Mobs in sich eindringen, die rohe Hitzeenergie des Feuers – und zog …
Diese Inbesitznahme von Kraft war fremd für sie. Sie verstieß eigentlich gegen den Maguschkodex – aber auf dem Marktplatz war eine solche Menge Energie freigesetzt worden, daß sie sich leicht nehmen konnte, was sie brauchte, ohne irgendwelchen Schaden anzurichten.
Der schwierigere Teil war, die Energie in sich hineinzuziehen und gleichzeitig ihr Bewußtsein aus sich herauszudrücken. Sie mußte ihren Körper vollkommen vergessen und ihr Bewußtsein beinahe … Sie mußte ein Rohr werden – ein Kanal, ein Gefäß – und die Energie einfach hindurchfließen lassen …
Ihr suchender Geist traf abermals auf die Wolken. Würde es leichter sein, zu ziehen oder zu schieben? Aber die Wolken bewegten sich ohnehin in ihre Richtung, also ziehen. Aber wie? Was gab es in einer Wolke, das man fassen konnte? Ah! Natürlich! Aurian heftete ihren Willen zwischen die Wolken und die Kaltfront, die ihnen voranging, und schob sie mit aller Kraft auf Nexis zu. Die kalte Luftmasse schuf ein Vakuum. Luft war leichter zu bewegen als Wasser. Beinahe fröhlich, so schien es, brausten die Wolken herbei und beeilten sich, den frei gewordenen Raum auszufüllen.
Es war beinahe zu einfach mit all der Energie, die ihr zur Verfügung stand. Später sollte Aurian begreifen, daß das, was für sie in ihrer körperlosen Zeit eine Ewigkeit gedauert hatte, in Wirklichkeit kaum ein paar Sekunden in Anspruch genommen hatte. Als sich eine dichte Wolkendecke wie ein schwarzer, drohender Deckel über die Stadt gesenkt hatte, kehrte sie in ihren Körper zurück, sammelte noch einmal all ihre Kräfte und schlug zu.
Ein greller Blitz zuckte herab und gabelte sich am Himmel zu einzelnen, zackigen Linien. In der Ferne rollte ein Donnergrollen zu Tal. Regne! dachte Aurian, während ihr Bewußtsein nach einem tief hängenden Wolkenstreifen griff. Es war ein Gefühl, als griffe sie direkt mit den Händen in diesen blauschwarzen Baldachin, als benutze sie ihre Finger, um die kostbare Feuchtigkeit aus dem Himmel zu wringen …
Ein Platzregen riß sie jäh wieder in ihren Körper zurück. Es war ein einziger, kompakter, schwerer Guß. Augenblicklich klebte Aurian das Haar flach am Kopf. Es fiel ihr schwer zu atmen. Es war, als sei sie unter Wasser. Der Regen war kalt. Er brachte das Feuer augenblicklich zum Verlöschen.
Widerwillig wandte Aurian sich von der Herrlichkeit der Elemente ab, die sich ihr in der Beschwörung gezeigt hatte. Erst jetzt hörte sie den Jubel der Menge. Der Aufruhr hatte sich in Sekundenschnelle gelegt, als hätte der Regen alle Angst und allen Zorn weggewaschen. Die Menschen auf dem Marktplatz machten Freudensprünge, und Männer und Frauen gleichermaßen wirbelten einander in wilden, ausgelassenen Freudentänzen herum. Der Mann auf dem Pferd bahnte sich vorsichtige seinen Weg durch die feiernde Menge, um zu den Kaufleuten zu gelangen.
»Was hast du getan?«
Aurian fuhr herum, schockiert, sich plötzlich Auge in Auge mit Forral wiederzufinden. Er hatte die halbzerfallenen Steine des Gebäudes benutzt, um sich zu ihr auf den Balkon zu’ schwingen.
»Wie hast du das gemacht? Das warst doch du, oder? Wie kannst du es wagen, dich in solche Gefahr zu bringen? Weißt du nicht mehr, warum man mich überhaupt hierhergerufen hat?« Forrals rußgeschwärztes Gesicht war grimmig, und seine Stimme hart vor Zorn, als seine großen Hände sich um ihre Schultern legten. Aurian schrak zurück. Unwillkürlich mußte sie an den Tag denken, als er sie bei ihrem Spiel mit den Feuerbällen erwischt hatte. Dann gewann jedoch ihr Maguschstolz wieder die Oberhand, und sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Wie konnte er es wagen, sie zu behandeln, als wäre sie immer noch ein Kind!
Das war das letzte, was Forral erwartet hatte. Aurian riß sich gewaltsam aus seiner Umklammerung los, und zum ersten Mal bemerkte er, daß sie ebensogroß war wie er, wenn nicht sogar ein kleines Stückchen größer. Stolz schob sie ihr Kinn vor, und ihre Augen loderten mit einem wilden Feuer in einem Gesicht, das weiß vor Wut war. In ihrem Zorn war sie eine echte Magusch und wahrhaft einschüchternd. Der Sturm über ihnen schien in Übereinstimmung mit ihrem Zorn anzuschwellen. Ein Lichtblitz spaltete das Dach eines nahegelegenen Hauses. »Wie kannst du es wagen!« fauchte Aurian. »Wie kannst du es wagen, mich so lange zu vernachlässigen, und dann kaum einen Tag nach deiner Rückkehr gleich versuchen, dich umzubringen! Und was gibt dir das Recht, mich davon abhalten zu wollen, dir zu helfen?«
Forral trat hastig einen Schritt zurück, wohl wissend, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als nachzugeben. Da er alles andere als dumm war, wurde ihm plötzlich klar, daß er seine Beziehung zu Aurian von Grund auf neu überdenken mußte.