Aber bei den Göttern, sie war prachtvoll in ihrem Zorn – wie sie vor ihm stand, stolz und groß und wunderschön wie ein Sturmgeist, mit Augen, aus denen loderndes Feuer blitzte! Von diesem Augenblick an war Forral verloren. »Ich …« stammelte er. Was immer er hatte sagen wollen, wurde vom Donner der Hufschläge übertönt, als eine Kompanie Soldaten auf den Platz geritten kam. Endlich rückte also auch die Truppe an. Forral wandte sich wieder an Aurian. Sie sah ihn immer noch an, stolz und kompromißlos und mit einer herausfordernden Frage in den Augen. Der Schwertkämpfer grinste und schlug ihr hart auf die Schulter – die typische, kameradschaftliche Geste zwischen Kriegern. Er kicherte, als er sah, wie ihre Augen sich vor Überraschung weiteten. »Gut gemacht, Mädchen!« sagte er zu ihr. »Wirklich gut gemacht! Du hast den Tag gerettet!«
Eine Stunde später versammelte sich in dem privaten Speisezimmer des Flinken Hirschen eine ernste Konferenz der Führer. Das Zimmer war warm vom Lampenlicht, denn am Himmel hingen immer noch die schweren, schwarzen Wolken von Aurians Unwetter und verdüsterten den Sommernachmittag. Der Regen trommelte auf die bereits überschwemmten Gehsteige und strömte in reißenden Bächen die wie Diamanten funkelnden Fenster herab.
Der unterwürfige Gastwirt, dem es offensichtlich schmeichelte, so viele einflußreiche Leute unter seinem Dach zu beherbergen, brachte ihnen randvolle Humpen Dunkelbier und üppige Platten mit Früchten, kaltem Fleisch und Käse. Aurian war einen verdrossenen Blick auf die Speisen. Gewiß, es war nicht viel, aber für die hungrigen Menschen, die den Aufstand begonnen hatten, wäre es ein Festmahl gewesen. Zum ersten Mal fragte sie sich, warum man auf dem Markt immer so große Rationen für die Magusch reserviert hatte.
Als sich alle um den Tisch versammelt hatten, sah Aurian von einem Gesicht zum anderen und forschte in ihrer Erinnerung, um jedes davon mit einem der Namen in Verbindung bringen zu können; um sich die Menschen einzuprägen, die man ihr erst vor so kurzer Zeit vorgestellt hatte. Zu Forrals Rechten saß ein derb wirkender, untersetzter Mann mit kurz geschorenem Haupt- und Barthaar, Vannor, der Kopf der Händlergilde. Zu Aurians Linken saß eine kleine, schlanke Frau in lederner Kampfkleidung. Ihre gebräunten Glieder zeigten wohlgeformte Muskeln, und ihre dunklen Zöpfe, in denen immer noch Regentropfen wie Juwelen funkelten, hatte sie sich nach Kriegerart um den Kopf geschlungen. Das war Leutnant Maya, stellvertretende Kommandantin der Garnison. Sie machte ein finsteres Gesicht und fühlte sich offensichtlich unwohl; sie biß sich auf die Lippen, und ihre Hände, die sie auf dem Schoß hielt, zuckten unruhig. Hinter ihr saß Parric, der Hauptmann der Berittenen: eine kleine, braune, drahtige Gestalt (waren all diese Garnisonskrieger so klein? fragte Aurian sich) mit ausgedünntem, braunem Haar und Lachfältchen im Gesicht. Aber im Augenblick lachte er nicht.
Aurian fühlte sich unter diesen grimmig dreinschauenden Fremden ebenfalls unwohl. Noch nie zuvor hatte sie sich in Gesellschaft so vieler Sterblicher befunden. Um gegen ihre Angst anzukämpfen, griff sie nach dem großen Zinnkrug, der vor ihr auf dem Tisch stand; nachdem sie einen Schluck von dem schaumigen Gebräu genommen hatte, zog sie eine Grimasse. Götter! Wie konnten die anderen nur dasitzen und dieses bittere Zeug trinken? Sie nahm noch einen hastigen Schluck, um ihren Hustenreiz zu besänftigen, denn sie wollte vor den Sterblichen nicht ihr Gesicht verlieren. Aber Vannor hatte es bereits bemerkt. Er schenkte ihr ein mitleidiges Lächeln und gab ihr heimlich einen Wink. Er bedeutete ihr, weiterzutrinken. Schüchtern erwiderte Aurian sein Lächeln und versuchte es noch einmal. Ah, diesmal schmeckte es nicht mehr gar so übel. Vielleicht mußte man sich erst daran gewöhnen.
Vannor räusperte sich, legte seine Hände auf den Tisch und stand auf. »Also«, begann er ein wenig schroff, »wir sind nicht hierhergekommen, um den ganzen Nachmittag herumzusitzen und Bier zu trinken. Am besten fangen wir gleich an – und ich kann mir keinen besseren Anfang denken, als der Lady Aurian dafür zu danken, daß sie uns Regen gebracht hat und daß sie die Nahrungsmittel, die für die Magusch bestimmt waren, denen überlassen hat, die sie dringender brauchten. Lady, als Oberhaupt der Händlergilde bin ich Euch, so wie das ganze Volk von Nexis, zu Dank verpflichtet.« Mit diesen Worten drehte er sich zu ihr um und verbeugte sich.
Aurian spürte, wie ihr Gesicht angesichts eines solchen öffentlichen Kompliments heiß vor Verlegenheit wurde. Außerdem hatte er ihren Ehrentitel gebraucht, und es war das erste Mal, daß man sie auf solche Weise angesprochen hatte. »Ich …« Verlegen und hilflos breitete sie die Hände aus. »Was sonst hätte ich tun können?«
»Gut gesagt, Lady!« In Vannors Stimme lag tiefe Anerkennung.
Aurian hielt den Zeitpunkt für gekommen, die Frage anzuschneiden, die sie in den letzten Stunden gequält hatte. »Sir«, begann sie.
»Vannor bitte, Lady.« Er lächelte sie an. »Ich habe keine Verwendung für diese phantastischen Titel. Nennt mich einfach nur Vannor.«
Aurian erwiderte sein Lächeln. »Dann nennt Ihr mich Aurian – einfach nur Aurian.« Sie fragte sich, warum ihre Worte ihn so überrascht hatten und warum Forral ihr ein anerkennendes Lächeln schenkte. »Wie dem auch sei«, fuhr sie fort, »ich habe mich gefragt … nun, in diesem Haus gibt es genug zu essen …« Sie zeigte auf die Teller, die auf dem Tisch standen. »Und es kann nicht das einzige Haus sein, in dem das so ist. Warum wurden die Nahrungsmittel nicht gerecht unter den Leuten verteilt? Und warum ist der Mob über den Wagen der Magusch hergefallen?«
Vannor schien die ganze Angelegenheit ein wenig peinlich zu sein, und er war kaum in der Lage, ihrem Blick standzuhalten. Forral, in dessen Zügen sich ein schiefes Lächeln spiegelte, beobachtete das Ganze mit eifrigem Interesse. Endlich fand der Kaufmann seine Stimme wieder. »Lady – Aurian – in gewisser Hinsicht habt Ihr ganz recht. Es herrscht Ungerechtigkeit in Nexis. Die Reichen kümmern sich um sich selbst, und die Armen – nun, sie versuchen, sich durchzuschlagen, so gut es geht. Diejenigen, denen das nicht gelingt, müssen sich für einige Jahre oder – im Falle einer großen Schuld – für ihre ganzes Leben als Leibeigene verkaufen. Das ist nichts anderes als legale Sklaverei!« Er machte ein finsteres Gesicht. »Ich tue im Rat, was ich kann, um das zu ändern – ich war selbst einmal arm –, aber das Schlimme ist, daß ich als Vorstand der Händlergilde eine Menge reicher Leute repräsentiere. Wenn ihnen nicht gefällt, was ich tue, werde ich abgesetzt, und sie werden jemanden an meine Stelle setzen, der sich keinen Deut um die Armen kümmert. Also muß ich mich um einen Mittelweg bemühen.« Er seufzte. »Aurian, ich muß Euch sagen, daß’ ich im Rat weder vom Erzmagusch noch von Rioch, seiner Marionette, unterstützt werde.« Er warf Forral einen schneiden^ den Blick zu, und Aurian sah, wie der große Mann plötzlich aufhörte zu lächeln. Dann wandte Vannor sich wieder an Aurian. »Könnt Ihr leugnen, daß Miathan alle Sterblichen, ob arm oder reich, aus ganzem Herzen verachtet?«
Nun war es an Aurian zu erröten. Er hatte recht – Miathan hatte oft etwas in der Art gesagt, und es erfüllte sie mit Unbehagen. Für den Erzmagusch waren die Sterblichen grundsätzlich betrügerisch, faul, unbeholfen und regelrecht gefährlich, und Vannor war der schlimmste von allen. Das heutige Verhalten des Mobs hatten seine Worte bestätigt, und doch – sie sah Vannor an und erblickte hinter seinem schroffen, rauhbeinigen Verhalten einen freundlichen, fürsorglichen und ehrlichen Mann. Verwirrter, als sie es je im Leben gewesen war, wandte sie den Blick von ihm ab. Plötzlich erinnerte sie sich an den unerfreulichen Zwischenfall im vergangenen Jahr, als Meiriel sich geweigert hatte, Vannors Frau bei einer schwierigen Geburt beizustehen. Es sei überflüssig, hatte die Heilerin gemeint, aber die Frau war gestorben. Aurians Gesicht wurde heiß vor Scham. Kein Wunder, daß Vannor wenig für ihre Leute übrig hatte! Plötzlich begann sie zu verstehen, warum der Mob sich ausgerechnet die Magusch als Ziel für seinen Haß ausgesucht hatte. Sie hoffte nur, daß sie mit dem Regen und der Verteilung der für die Magusch bestimmten Nahrungsmittel unter den Sterblichen ein wenig dazu beigetragen hatte, das Gleichgewicht wiederherzustellen.