Während er sein Pferd die steil abfallende Straße zur Brücke hinunterlenkte, wunderte er sich noch einmal, wie sie es hatte fertigbringen können, sich selbst und ihren Sohn all diese Jahre über zu verbergen. Hatte sie geahnt, daß er ihr nie gestattet hätte, diesen halbblütigen Abschaum eines Abkömmlings zur Welt zu bringen? Große Götter, was für ein Dummkopf war er doch gewesen, sich überhaupt von einer Sterblichen verführen zu lassen!
Es gehörte zur Arroganz von Miathans Maguschgeschlecht, daß er für die Sterblichen, mit denen er seine Welt und seine Stadt teilte, nichts als Verachtung übrig hatte und sie für nicht viel mehr als Tiere hielt. Es war ein besonderes Unglück für Anvar, gerade jetzt entdeckt worden zu sein, da in dem Erzmagusch noch die frische Wunde von Aurians Abtrünnigkeit und ihrer unglückseligen, unvorhergesehenen Freundschaft mit der verachteten, niedrigen Rasse brannte. Weil er darauf bedacht war, ihre Achtung und ihre Zuneigung wiederzugewinnen, um seine zukünftigen Pläne für sie weiterverfolgen zu können, war er in die ärgerliche und demütigende Lage geraten, Forral und Vannor Zugeständnisse machen zu müssen, die er andernfalls nie gutgeheißen hätte.
Der Erzmagusch bedauerte es bereits, den Schwertkämpfer wieder mit Aurian zusammengebracht zu haben – den gleichen Mann, der seinen früheren Freund Geraint mit diesen lächerlichen Ideen angesteckt hatte, daß es irgendwelche Rechte für die Sterblichen gab. Doch wenigstens war Aurian jünger und leichter zu beeinflussen, grübelte Miathan. Und sie mußte beeinflußt werden! Gerade heute hatten seine Pläne eine neue und unerwartete Wendung genommen, als die junge Magusch an die Akademie zurückgekehrt war. Während ihrer Abwesenheit von nur einem Monat war aus dem Kind eine Frau geworden. Miathan war überrascht gewesen durch Aurians Veränderung, die nicht nur ihren neuen Kleidern zuzuschreiben war. Er hatte alles gesehen: ihre plötzliche Wachheit; den neuen unschuldigen Hauch von Reife; das Bewußtsein ihrer weiblichen Natur, das sie in einer Aura unbewußter Sinnlichkeit umfing und in ihm Gefühle wachrief, mit denen er schon lange zugunsten kalten Ehrgeizes fertig geworden zu sein glaubte.
Wie hatte es ihn verbittert, daß so ein Stück von einem Sterblichen und obendrein noch eines, das er selbst auf den Plan gerufen hatte – es gewesen war, das diese Verwandlung ausgelöst hatte. Jetzt entdeckte er plötzlich, daß er Aurian für sich selbst wollte – und bei allen Göttern, sie gehörte zu ihm und nicht zu diesem nichtswürdigen, niedriggeborenen Tier von einem Schwertkämpfer. Aber noch waren ja Wille und Gelegenheit vorhanden, sie für sich zurückzugewinnen, und bis es soweit war, hatte er einen anderen Sterblichen, an dem er seinen Zorn kühlen konnte – einen, dem er ebenfalls noch eine Rache schuldig war, dafür, daß er gewagt hatte, unter Mißachtung seiner Wünsche zu existieren.
Der Turm der Magusch war von dunkler Nacht umgeben. Anvar stand blinzelnd im warmen Lampenlicht der prachtvollen Gemächer des Erzmagusch, immer noch halb betäubt und ohne klares Bewußtsein dessen, was mit ihm geschah. Nachdem er brutal durch die Straßen geschleift worden war, war sein Körper jetzt vom Scheitel bis zur Sohle von Schürfwunden und Blutergüssen bedeckt, und seine Beine schmerzten vom langen Aufstieg über die endlose Spirale von Stufen, die in Miathans Räume geführt hatte. Da, wo Miathans Fesseln unbarmherzig an ihm gezerrt hatten, brannten seine Arme und Handgelenke vor Schmerz. Anvar war verängstigt und verwirrt. Was tat er hier? Warum hatte der Erzmagusch ihn von Zu Hause fortgeholt? Wollten die Maguschleute ihn für den Tod seiner Mutter bestrafen? Anvar erstickte einen Seufzer. Warum, warum war er heute morgen nicht pünktlich gewesen? Es war alles seine Schuld. Aber warum hatte sein Vater ihn Miathan übergeben? Haßte Torl ihn wirklich so sehr?
Miathan drückte ihn grob auf einen Sitz und blickte mit der Kälte von tausend Wintern in den Augen auf ihn herab. Anvar begann zu zittern.
»So«, sagte der Erzmagusch schroff. »Nach all diesen Jahren bist du also schließlich aufgetaucht, um mich zu plagen. Nach meinen Plänen hättest du eigentlich vernichtet sein sollen, bevor du geboren warst. Wäre deine elende Mutter doch nur nicht weggelaufen. Aber immerhin, vielleicht bist du noch zu etwas nutze.«
Er nahm Anvars Kopf in beide Hände. Anvar stöhnte vor Schmerz. Ihm war, als würde ihm das Gehirn ausgewrungen. Er fiel vornüber und erbrach sich über den Boden. »Kretin!« Der Faustschlag des Erzmagusch warf ihn wieder zurück in seinen Sitz.
Anvar versuchte, sich wegzuducken, aber Miathan bekam ihn an den Haaren zu fassen und hängte ihm eine silberne Kette mit einem glänzenden, flachen Kristall um den Hals. »Ich werde nicht zulassen, daß sich ein Bastard den Rang der Maguschleute anmaßt«, sagte er. »Du magst Kräfte haben – aber damit werde ich gleich fertig sein!« Er hob seinen Stab und stieß schreiend in einer merkwürdigen und verzerrten Sprache einige Worte hervor.
Der Kristall an der Kette erstrahlte plötzlich in einem überirdischen Licht. Anvar schrie vor Schmerz und wurde zu Boden geschleudert, schlug mit dem Kopf auf und hatte das Gefühl, als würde das Leben selbst aus seinem Leib gesaugt. Undeutlich nahm er wahr, daß Miathan ihm die Kette mit dem Kristall abnahm, und als der Schmerz nachließ und er wieder klarer sehen konnte, hatte der Erzmagusch sich selbst die Kette mit einem selbstgefälligen Lächeln umgehängt. »Das waren also deine Kräfte«, sagte er. »Jetzt sind sie mein. Aber noch eine Feinheit, bevor wir dich dahin schicken, wo du hingehörst, du Bastard von einem Halbblut!« Noch einmal legte er seine Hände auf Anvars Kopf und sah den schreckensstarren Jungen mit brennenden Augen an. Anvar hatte das Gefühl, als ob sich ein Band von eisigem Stahl fest um seine Stirn legte.
»Kannst du es spüren?« fragte der Erzmagusch. »Du wirst es für den Rest deines Lebens behalten, Anvar. Normalerweise wirst du gar nicht merken, daß es da ist – aber wenn du versuchst, irgend jemandem davon zu erzählen, was du heute getan hast, oder davon, daß du von einem Magusch abstammst – selbst wenn du bloß versuchst, daran zu denken –, dann wird sich dieses Band straffen und dir unaussprechliche Schmerzen bereiten. Und wenn du nicht aufhörst, wird es dich umbringen. Mach also keinen Fehler.«
Es klopfte an der Tür. »Herein«, rief Miathan.
Ein großer Mann mit fettigem, schwarzem Haar und einer brutalen Fratze kam herein. Er verbeugte sich ehrerbietig vor dem Erzmagusch und warf Anvar, der sich immer noch stöhnend auf dem Boden wandt, einen flüchtigen, verwunderten Blick zu. »Du hast nach mir geschickt, Herr?«
»Das habe ich in der Tat, Janok«, strahlte Miathan. »Ich habe von deinen Klagen gehört, daß du zuwenig Hilfe in der Küche hast – denn eurem Erzmagusch bleiben selbst solche unbedeutenden Dinge nicht verborgen. Ich habe einen neuen Dienstsklaven für dich. Er kommt aus einer Bäckersfamilie, so daß er dir vielleicht von Nutzen sein kann. Sein Vater hat ihn mir übergeben, nachdem der Bursche seine Mutter umgebracht hat.«
Janok runzelte die Stirn. »Herr, du willst, daß ich einen Mörder in meiner Küche beschäftige?«
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Miathan unbekümmert. »Es ist bestenfalls ein feiges kleines Scheusal. Behandle ihn so, wie er es verdient, dann wird es keine Probleme geben. Wenn es allerdings zu schwierig für dich ist, mit ihm fertig zu werden, dann kannst du dich natürlich an mich wenden.« Von seinen . stahlharten Augen ging eine unausgesprochene Drohung aus.
»Sehr wohl, Herr«, murmelte Janok. Er war offensichtlich nicht besonders glücklich, aber ihm blieb keine Wahl. »Komm her, du!« Er ging auf Anvar zu und hob ihn an seinem Hemd vom Boden auf. Das letzte, was Anvar sah, während er aus dem Raum gezerrt wurde, war ein höhnisches Grinsen grausamer Befriedigung auf Miathans Gesicht. Der Erzmagusch weidete sich an seiner Schadenfreude.