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Als ihre Mutter sie in der Abenddämmerung hereinrief, gab es natürlich Ärger. Eilin, die mit zusammengekniffenen Lippen aus dem Fenster heraus Forrals Lager betrachtete, verbot Aurian, mit ihm zu sprechen oder auch nur in seine Nähe zu kommen. Aber der heitere Trotz des Schwertkämpfers hatte Aurian bereits angesteckt. »Ich werde mit ihm sprechen, und du kannst mich nicht daran hindern!« platzte sie heraus.

Eilin starrte sie verblüfft an, und ihr Gesicht verdunkelte sich vor Zorn. Aurians Aufsässigkeit trug ihr eine Tracht Prügel ein, aber das erhöhte ihre Entschlossenheit nur. Als es vorbei war, ging sie auf ihre Mutter los. »Ich hasse dich!« schluchzte sie. »Und du wirst mich nicht daran hindern, Forral zu treffen, ganz gleich, was du mir antust!«

Eilins Augen funkelten vor Zorn. »Sei dir da nur nicht so sicher. Er wird nicht mehr lange hier sein.«

»Das wird er wohl! Er hat es mir versprochen!«

»Wir werden ja sehen«, sagte Eilin grimmig.

Früh am nächsten Morgen stahl Aurian sich aus dem Turm heraus und lief heimlich über die Brücke. Sie hatte für Forral zum Frühstück einen Laib Brot eingepackt und Käse von den Ziegen ihrer Mutter, die am Seeufer grasten. Als sie das Wäldchen erreicht hatte, blieb sie atemlos stehen. Das Lager des Schwertkämpfers war unter einem dichten Gestrüpp stacheliger Ranken verschwunden, die über Nacht aus dem Boden gesprossen waren. Das war natürlich das Werk ihrer Mutter.

»Forral«, rief Aurian verzweifelt und zerrte an den unnachgiebigen Kletterpflanzen. »Forral!«

Nach einem Augenblick hörte sie ein Rascheln aus dem Innern des Dickichts, gefolgt von wortreichen Flüchen. Der Schwertkämpfer brauchte den größeren Teil des Vormittags, um sich seinen Weg ins Freie zu bahnen. Als er schließlich schwarz und schmutzig ins Freie trat, begannen die Reben in sich zusammenzuschrumpfen, und binnen wenigen Minuten waren sie zu Staub zerfallen. Forral sah Aurian an. »Es wird schwieriger, als ich dachte«, meinte er.

Am folgenden Morgen waren die Ranken wieder da. Aurian stahl Forral eine Axt aus dem Lagerraum ihrer Mutter. Am nächsten Tag war es ein Brombeergestrüpp mit langen, scharfen Dornen. Forral schlug Aurian vor, die Beeren zu sammeln, bevor sie verschwanden, und als er sich aus dem Gestrüpp herausgehackt hatte, aßen sie sie zum Frühstück. Mit der Zeit wurde es zu einem Spiel zwischen ihnen, und Aurians Einsamkeit löste sich in der Gesellschaft ihres neuen Freundes in nichts auf. In diesen wenigen Tagen hatte sie mehr gelacht als zuvor in ihrem ganzen Leben. Schließlich stellte sie ihn auch ihren Freunden vor, den Tieren. Scheue Vögel, schreckhafte Hirsche und fauchende Wildkatzen aus dem Wald – sie alle scharten sich glücklich um Aurian, die sich wortlos mit ihnen in Verbindung setzte und Forral von den einfachen Gefühlen der wilden Kreaturen berichtete. Sie war jedoch enttäuscht darüber, daß Forral nicht selbst mit ihren Freunden sprechen konnte. Sie hatte bisher gedacht, alle Menschen könnten das.

Aber dafür beherrschte der Schwertkämpfer viele andere Dinge. Er war ein Genie, wenn es darum ging, Spiele zu ersinnen, und er verfügte über einen gewaltigen Fundus von Geschichten über sein Leben als Krieger oder über Prinzessinnen und Drachen und Helden. Forral war Aurians Held, und sie betete ihn an. Sie hatte ihm nie erzählt, daß ihre Mutter sie geschlagen hatte, denn sie hatte Angst, auf diese Weise nur noch mehr Ärger heraufzubeschwören, aber zu ihrer großen Erleichterung verbot ihr Eilin nicht länger, sich mit Forral zu treffen. Allerdings fand Eilin statt dessen nun ständig langwierige und beschwerliche Aufgaben im Garten, mit denen sie ihre Tochter beschäftigte – aber mit Forrals Hilfe waren sie alle schnell erledigt. Aurian war klug genug, ihrer Mutter nichts von seiner Hilfe zu erzählen, und gab sich damit zufrieden, ihm etwas zu essen zu stehlen, sobald Eilin ihr den Rücken zukehrte.

Die Magusch hatte jedoch nicht aufgegeben. Am vierten Tag war Forrals kleines Zelt von einem Dickicht aus Brennesseln umgeben. Er machte ein ausgesprochen grimmiges Gesicht, als er schließlich auftauchte, und Aurian gab ihm Ampferblätter gegen das Brennen. Diesmal hatte sie wirklich Angst, daß er doch beschließen könnte, fortzugehen. Aber der Schwertkämpfer rieb sich mit dem lindernden Kraut über die fleckigen Hände und das Gesicht und warf einen funkelnden Blick auf den Turm. »Wir werden ja sehen, wer zuerst aufgibt«, murmelte er durch zusammengebissene Zähne. »Irgendwann einmal müssen ihr ja die Ideen ausgehen.«

Als der Herbst den ersten Winterfrösten Platz machte, verliefen die Dinge jedoch immer noch in ähnlicher Art. Eilins Spezialgebiet war die Erdmagie, und sie versuchte, ihren unwillkommenen Gast mit allen Kräften, die ihr zur Verfügung standen, aus seinem Quartier zu vertreiben. Eines Nachts stieg das Wasser im See auf mysteriöse Weise an, und Forrals Lager wurde überflutet. Ein andermal, als er mit Aurian am Nachmittag von einem Spaziergang zurückkam, fanden sie Ziegen in seinem Zelt vor, die seine Decken fraßen und an seinen Kleidern knabberten. Eilin brachte die Vögel, die im Wald nisteten, dazu, Forral anzugreifen, aber Aurian tadelte sie wegen ihres Verhaltens und setzte dem Treiben ein Ende. Bei den Ameisen hatte sie jedoch weniger Erfolg. Als sie gegen Forral ins Feld zogen, brauchten die beiden Stunden, bis sie sie wieder aus seinen Sachen vertrieben hatten.

Eines grauen, kühlen Morgens ging Aurian mit dem für Forral gestohlenen Frühstück und einer Flasche Brombeerwein aus den Beständen ihrer Mutter zum Lager hinüber. Der Wein würde ihn aufheitern, dächte sie. Als sie jedoch auf der anderen Seite der Brücke angelangt war, erscholl ein wütender Schrei aus dem Lager. Als Aurian keuchend dort ankam, war von dem Schwertkämpfer keine Spur mehr zu sehen. Zitternd spähte sie in das Zelt hinein.

Forral saß hoch aufgerichtet da, gelähmt vor Entsetzen und bedeckt von Hunderten sich ringelnder Schlangen, die sich so dicht um ihn herumgeschlungen hatten, daß es unmöglich war festzustellen, wo die eine begann und wo die andere endete. Aurian, die sich fragte, wo ihre Mutter sie alle gefunden hatte, verspürte Mitleid mit den armen Geschöpfen. Es war viel zu kalt für die Schlangen; sie durften zu dieser Jahreszeit schon lange nicht mehr im Freien sein, und es war nur natürlich, daß sie sich um die einzige Wärmequelle scharten – Forrals Körper. Aber der Schwertkämpfer war Aurians Freund, und er brauchte ihre Hilfe. Aurian seufzte und nahm Gedankenkontakt zu den Schlangen auf. »Schschsch«, sagte sie entschlossen, wobei sie Forral zuliebe laut sprach. Die Schlangen lösten sich eine nach der anderen mit großem Widerwillen von Forral und stahlen sich aus dem Zelt.

Forrals Gesicht war vollkommen weiß, und seine Hände zitterten, als er sich die Stirn abwischte. Sie reichte ihm die Flasche Wein, und er leerte sie in einem einzigen Zug, ohne auch nur Luft zu holen. Aurian war in der Zwischenzeit mit ihren eigenen zornigen Gedanken beschäftigt. »Das reicht jetzt aber wirklich!« sagte sie plötzlich, und Forral blickte überrascht auf. »Wie kann sie es wagen! Die armen Schlangen!«

»Die armen Schlangen?« wiederholte der Schwertkämpfer mit erstickter Stimme.

»Sie werden sterben«, erwiderte sie unwirsch. »Es ist viel zu kalt für sie. Ich weiß wirklich nicht, was sie sich dabei gedacht hat.«

Ungläubig starrte er sie an. »Die armen Schlangen!«

Aurian spähte aus dem Zelt heraus, dorthin, wo die Schlangen warteten, schwerfällig vor Kälte und offensichtlich erpicht darauf, wieder hereingelassen zu werden. »Sie können unmöglich draußen bleiben«, sagte sie.

»Ich hoffe, du willst damit nicht sagen, daß sie wieder hier hereinkommen sollen.«

Aurian runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. Dann kam ihr plötzlich eine wunderbare Idee. »Ich hab’s!« Und wieder nahm sie Kontakt zu den Schlangen auf.

Forral gesellte sich zu ihr, während sie zusah, wie die letzte Schlange ihren Weg über die Holzbrücke nahm. »Wohin gehen sie?«