Stimmen! Anvar sprang auf. Sein Herz hämmerte wild, während er vorsichtig um die Ecke des Gebäudes lugte. Er sah, wie das Tor der Großen Halle geöffnet wurde und sich goldenes Licht über den Schnee ergoß. Einige Gestalten kamen heraus, alle in Mäntel und Kapuzen gehüllt; sie trugen verschiedene, merkwürdig geformte Dinge mit sich, die alle gut gegen die Kälte eingewickelt waren. Natürlich! Anvar erinnerte sich, daß auch Musikanten zu dem Fest der Magusch kommen sollten. Und jetzt kehrten sie heim. Verließen die Akademie!
Ohne zu wagen, an die drohenden Gefahren zu denken, versteckte sich Anvar im Dunkel des engen Ganges zwischen der Krankenstation und der Küche, bis alle Musiker auf ihrem Weg zum Tor an ihm vorbei waren, wie ein Blitz überquerte er in gebückter Haltung den freien Raum zwischen sich und ihnen und schloß sich als letzter der Gruppe an. Er hoffte, daß der Sack über seinem Kopf in der Dunkelheit als Kapuze durchgehen würde. Die ermüdeten Musiker, die in ihre Mäntel eingemummt waren und nur den einen Gedanken hatten, schnell aus der Kälte heraus und nach Hause zu kommen, bemerkten nicht, daß sich ihre Anzahl vergrößert hatte. Und auch den beschwipsten Wachmännern fiel das nicht auf. »Fröhliche Sonnenwende«, riefen sie den passierenden Musikern zu. Als die Tore hinter der Gruppe vermummter Gestalten ins Schloß fielen, seufzte Anvar vor Erleichterung.
Im Torhaus am Fuß des Hügels hatte ein neuer Wachmann Dienst, jünger als der, den Anvar vor Jahren gesehen hatte. Er machte sich gerade über seinem kleinen Feuer einen Krug Ale heiß, als die Musikanten näher kamen, und interessierte sich mehr für seinen dampfenden Krug als für alles andere. Er öffnete die mit Eisenspitzen versehen Tore, ohne recht hinzuschauen, und winkte sie ungeduldig durch. Frei! Anvars Herz jubilierte. Die Musikanten nahmen ihren Weg über den Damm und dann über die baumbestandene Straße zu der Brücke, die zurück in die Stadt führte. Anvar trennte sich von der Gruppe und versteckte sich, bis die anderen in sicherer Entfernung waren, bevor er selbst auf der schmalen, steinernen Bogenbrücke den Fluß überquerte. Dann schlug er einen großen Bogen durch dunkle Hintergassen, um von den Lagerhäusern sicheren Abstand zu halten. Die ganze Zeit war er auf der Hut vor den Patrouillen der Garnison. Er vermied auch die Gruppen betrunkener Nachtschwärmer und kam schließlich auf den Treidelpfad, dem er flußabwärts folgte.
Der Weg kam ihm länger vor, als er ihn in Erinnerung hatte. Der Schnee fiel nun in dichteren Flocken und lag in Wehen quer über dem Weg. Die Sicht war schlecht, und Anvar mußte sich wohl oder übel an das dornige Uferdickicht halten, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, in den Fluß zu stürzen. Die Anstrengungen seiner Flucht hatten die Schmerzen seines geschundenen Körpers noch verstärkt, und er zitterte vor Kälte und Müdigkeit, während ihm der Wind ins Gesicht blies und ihm im Schneegestöber die Sicht nahm. Entschlossen stapfte er weiter, vorwärtsgetrieben durch den Gedanken, Sara wiederzusehen.
Gegen den Hintergrund des hellen Schnees erkannte er an der Mühle den dunklen Umriß einer Frau in Mantel und Kapuze. Die Frau blickte in das schäumende, glänzende Wasser auf dem Mühlrad. Anvar schlug das Herz bis zum Halse. »Sara?« flüsterte er.
Die Frau fuhr mit einem scharfen Schrei herum. Es war Verla, Saras Mutter. »Anvar!«
»Bitte«, bat Anvar sie und ignorierte die Feindseligkeit in ihrer Stimme, »ich muß Sara sehen. Geht es ihr gut?«
»Wie kannst du fragen? Wie kannst du es wagen, hierherzukommen, nach all dem Leid, das du über uns gebracht hast?«
»Was sagst du?« Er nahm sie bei den Schultern. »Was ist geschehen? Erzähl es mir!«
»Also gut!« stieß Verla hervor. Sie machte sich aus seinem Griff frei. »Nach dem, was geschehen war«, sagte sie grimmig, »hat Jard nicht zugelassen, daß Sara dein Kind zur Welt bringt. Er hat sie zu einer Kurpfuscherin von Hebamme in der Stadt gebracht.«
»Nein!« schrie Anvar entsetzt auf.
»O ja. Die Frau hat das Baby wegbekommen, aber etwas ist schiefgegangen, und jetzt kann Sara nie wieder ein Kind haben.«
Anvar fiel auf dem schneebedeckten Pfad auf die Knie und barg seinen Kopf in den Händen. »O ihr Götter«, flüsterte er. Sara! Sein Kind!
»Danach«, fuhr Verla gnadenlos fort, »hat Jard sie als Ehefrau an Vannor verkauft.«
»Was?« stöhnte Anvar. Dem mächtigsten Kaufmann der Stadt durfte keiner in die Quere kommen – und jeder vermied das auch geflissentlich, vor allem, wenn er von den dunklen Gerüchten über Vannors Vergangenheit in den Docks gehört hatte.
»Genau das«, sagte Verla bitter. »Ihm war es egal, daß sie unfruchtbar ist. Er hat Kinder von seiner ersten Frau. Er wollte Sara fürs Bett, und er war bereit, dafür zu zahlen. Ich weiß nicht, ob sie glücklich ist – wir sehen sie nie. Ich hoffe, dir gefällt, was du getan hast. Und jetzt verschwinde von hier. Ich will nicht, daß du mir noch einmal unter die Augen kommst!«
Anvar wollte seinen Mund öffnen, um zu protestieren, als ihn ein schwerer Schlag auf den Hinterkopf traf. Sprachlos und halb blind vor Schmerz brach er im Schnee zusammen. Das letzte, was er hörte, war Jards Stimme. »Gut gemacht, Verla! Fessle ihn, während ich die Wachleute hole.« Der Müller griff seine Hand und besah sich das Mal darauf im Licht der Laterne, die er bei sich trug. »Für einen entlaufenen Sklaven gibt es bestimmt eine hübsche Belohnung.«
Es war die Nacht der Wintersonnenwende, die längste des Jahres; D’arvan lag wach, hatte viele dunkle Stunden gezählt, bevor Davorshan mit dem Morgengrauen in die Räume kam, die er zusammen mit seinem Bruder bewohnte. D’arvan hatte keinerlei Zweifel mehr, wie sein Zwillingsbruder die Nacht verbracht hatte. Davorshans Schild war durchlässig geworden, als Leidenschaft seine Konzentration geschwächt hatte; die Verbindung zu seinem Bruder war zu stark, um sich in ihrer Wechselseitigkeit ohne weiteres abbrechen zu lassen. Es war eine einzige, lange Qual für D’arvan gewesen: diese Gedanken – diese Gefühle – dieser Anblick von Eliseth, die nackt auf einer weißen Felldecke lag – ihr silberhell klingendes Lachen – die brennende Hitze ihrer Berührung, die er auf seiner Haut spürte, als wäre es die seines Bruders – der seidige Griff der kühlen Satinlaken – und seine eigene, einsame und schamvolle Verausgabung als Echo auf den Höhepunkt von Davorshans rasender Lust, die ihn befleckt und mit Schuldgefühlen und mit wundem Herz zurückgelassen hatte.
Selbst nachdem der Sturm von Davorshans Leidenschaft gnädigerweise verklungen war, fühlte D’arvan sich nicht besser. Immer noch aufgewühlt durch den Schock der brutalen, jähen Isolation von der Gedankenwelt seines Zwillings und vom Mahlstrom der Lust, in dessen Sog er danach geraten war, wurden seine Gedanken zwischen Trauer und Ärger und Schuld hin- und hergeworfen – mal gab er seinem Bruder, mal Eliseth und mal sich selbst die Schuld. Davorshan ist alles, was ich habe – dieser Gedanke verwob sich mit den anderen zu einer endlosen Litanei der Verzweiflung. So ist es immer gewesen, aber jetzt hat er jemand anderen … Was soll ich ohne ihn tun?
Soweit ihr Gedächtnis zurückreichte, waren die Zwillinge gezwungenermaßen aufeinander angewiesen. D’arvan konnte sich kaum an seinen Vater und seine Mutter erinnern – Bavordran und Adrina hatten sich entschieden, aus dem Leben zu scheiden, als er noch sehr klein war, aber die Tatsache, daß sie sich entschlossen hatten, zwei Kinder zur Welt zu bringen und sie dann so überstürzt im Stich zu lassen, hatte der junge Magusch nie verstanden. Die älteren Magusch sprachen nie davon, aber D’arvan war sich sicher, daß seine Eltern miteinander nicht glücklich gewesen sein konnten – und genauso sicher war er sich, daß zumindest seine Mutter ihn nicht hatte verlassen wollen. Er hatte eine vage, ungenaue Erinnerung an einen heftigen Streit, an Adrinas Gesicht, das von Tränen überströmt war, während sie ihn in Schlaf wiegte. Er hatte sie nie wiedergesehen. Die verwaisten Zwillinge waren danach in nachlässiger Weise von Meiriel und Finbarr und den Dienstboten der Akademie aufgezogen worden und hatten natürlicherweise den Mangel an elterlicher Liebe durch ihre Hingabe aneinander ausgeglichen – ein Band, das Eliseth nun plötzlich und ungestüm zerrissen hatte.