Schon bevor Davorshan ihre gemeinsamen Räume betrat, konnte D’arvan seine bevorstehende Rückkehr spüren. Er wußte immer, wenn sein Bruder in der Nähe war. Und obwohl er den Anblick seines Zwillingsbruders fürchtete, war er für jede Unterbrechung seiner beängstigenden Gedanken dankbar – bis der Bruder seiner Seele selbstgefällig grinsend hereingeschlichen kam und den Gestank von Wein und Eliseths schwerem Parfüm um sich verbreitete. Auf Zehenspitzen ging er an D’arvans Bett vorbei, ohne ihm auch nur einen Blick zu schenken.
»Es ist schon gut, ich bin wach. Du brauchst dir keine Mühe zu geben, leise zu sein!« Der Abscheu in seiner eigenen Stimme überraschte D’arvan, aber der Ärger hatte letzten Endes die Oberhand gewonnen. Davorshan machte sich noch nicht einmal die Mühe, schuldbewußt dreinzuschauen. Seine selbstgefällige Miene änderte sich nicht einmal für einen Augenblick. Achselzuckend setzte er sich an den Fuß von D’arvans Bett, ganz Offenheit und Charme; von seiner feindseligen Abschirmung war scheinbar nichts mehr zu spüren.
»Du hast guten Grund, über mich verärgert zu sein«, sagte er. »Hör zu, Dar – es tut mir leid, was heute geschehen ist auf dem Fest. Es ging nur darum, daß ich mit Eliseth allein sein wollte – du wirst schon merken, wie das ist, wenn du selbst jemanden für dich findest. Es war nicht meine Absicht, dich so plötzlich auszuschließen, aber es gibt einige Dinge, die man einfach nicht teilen kann – noch nicht einmal mit dem eigenen, geliebten Bruder.«
Noch vor einigen Stunden hätte D’arvan ihm Glauben geschenkt. Hätte ihm vertraut und sich gefreut, daß sich ihre Differenzen geklärt hatten und beigelegt waren. Davorshans Geist war wieder offen für ihn. In all seiner alten, beruhigenden Vertrautheit, außer … Aus reinem Instinkt nahm D’arvan all die Bitterkeit und den Verrat und den Schmerz zusammen, die die Verzweiflung dieser entsetzlichen Nacht hinterlassen hatte, und formte daraus eine lanzenartige Sonde des Willens, mit der er suchend den Sinn seines Bruders ergründete. Davorshan war durch nichts gewarnt – er hatte keine Zeit zu reagieren. »Fluch über dich!« schrie er, während er zurückprallte und den Angriff mit all seiner Kraft abzublocken versuchte. Aber es war schon zu spät. D’arvans Sonde war bereits auf den harten, dunklen, pulsierenden Kern der Geheimnisse gestoßen, die sein Bruder so geflissentlich hinter seiner Maske der Offenheit verborgen hatte.
Zitternd ließ D’arvan seine Sonde zurückschnellen, als hätte er sich verbrannt. Götter! Warum habe ich das getan? dachte er verzweifelt. Warum konnte ich ihn nicht in Frieden lassen? Dieser zweite Verrat verletzt mich noch mehr als der erste!
»Warum hast du das getan?« Davorshans bekümmertes Flüstern war ein Widerhall seiner Gedanken. »Ich will es – ich will sie, und nichts – noch nicht einmal du – wird mich davon abhalten! Aber es ist wirklich wahr, Bruder, daß ich dich nicht verletzen wollte!«
Es mag wohl die Wahrheit gewesen sein – jedenfalls machte Davorshan jetzt einen ehrlichen Eindruck –, aber D’arvans Bedarf an Lügen und Verrat war inzwischen reichlich gedeckt. Ein drittes Mal wollte er nicht riskieren.
»Laß mich allein – laß mich einfach allein!« Zum ersten Mal in seinem Leben verschloß er sich vor seinem Bruder und wandte sein Gesicht ab, starrte unverwandt mit tränenüberströmten Augen an die Wand, bis er hörte, daß Davorshan zu Bett gegangen war. Es war das Schwerste und Schmerzhafteste, das er jemals getan hatte. Um seinen Sinn von der niederdrückenden Last der Einsamkeit abzulenken, richtete er die innere Energie seiner Enttäuschung darauf, seinen sinkenden Mut zu stärken und neu aufzubauen. Er zwang sich, an Aurian und ihr Angebot zu denken. Wahrscheinlich hatte sie recht – wenn er nicht länger auf seinen Bruder zählen konnte, dann mußte er andere Menschen kennenlernen. Nach der Sonnenwende würde er sie bitten, ihn mit zur Garnison zu nehmen. Bis dahin würde er trauern.
9
Ein Kriegerherz
Die Muskeln in Aurians Rücken und Schultern schienen ihren Dienst versagen, in Agonie aufschreien zu wollen. Das Schwert in ihrer ermatteten Hand wurde unglaublich schwer. Sie machte mit defensiv erhobener Klinge einen Schritt zurück, um etwas mehr Zeit für ihre Reaktion zu gewinnen, während sie Forral aus zusammengekniffenen Augen beobachtete und versuchte, seine nächste Bewegung vorherzusehen. Es wurde ein schneller seitlicher Schlag – niedrig angesetzt, er schlug ihr fast die Füße weg. Aurian sprang zurück, parierte unbeholfen und spürte den betäubenden Schock der aufeinanderklirrenden Klingen in ihren Händen. Durch Forrals krausen braunen Bart sah sie ein kurzes Aufblitzen seiner weißen Zähne.
Während sie ihre Klinge wieder hob, verfluchte Aurian die Unermüdlichkeit des Schwertkämpfers; verfluchte seine Pflichtauffassung, die sie zwang, selbst am Morgen des Sonnenwendtages zu trainieren; verfluchte ihre Dummheit, in der vorhergehenden Nacht zuviel getrunken zu haben und nicht rechtzeitig zu Bett gegangen zu sein. Dieser verdammte D’arvan! Schweiß brannte ihr in den Augen und tropfte in den Sand der großen, scheunenartigen Trainingsarena der Garnison. Vor Müdigkeit taumelnd, riß sie ihr Schwert nach oben, um Forrals blitzschnelle Stöße zu parieren. Warum um alles in der Welt hatte sie ihn nur bekniet, ihr Schwerttraining wiederaufzunehmen? Sie hätte niemals für möglich gehalten, daß sie so außer Form war, so außer Übung; und vier Monate schweißtreibender mörderischer Quälerei auf diesem Sand hatten anscheinend nur wenig Besserung gebracht. Würde sie jemals ihre alten Fertigkeiten zurückerlangen?
Forral drang plötzlich auf sie ein, sein schweres Schwert ein funkelnder Wirbel von Licht – die berühmte Kreiseldrehung der Klinge, sein eigenes Markenzeichen, das weder Aurian noch irgend jemand sonst zu meistern vermochte. Sie stöhnte vor Schmerz, als ihre Handgelenke umknickten und das Schwert ihr aus der Hand geschlagen wurde, um in einiger Entfernung im Sand zu landen. Forral schüttelte den Kopf. »Du bist tot!« sagte er. Ohne Aurian Zeit zu einer Reaktion zu geben, riß er sie an der Schulter herum, und versetzte ihr mit der flachen Seite seiner Klinge einen schweren Schlag über ihr Hinterteil. Dieser Trick war ihr nur allzu vertraut – er benutzte ihn bei all seinen Schülern als Ansporn, einen einmal gemachten Fehler nicht zu wiederholen. »Au!« heulte Aurian empört auf und rieb sich die schmerzende Stelle. Tränen der Erschöpfung und Enttäuschung traten ihr in die Augen.
Forrals Arme legten sich beruhigend um sie, seine große Hand knetete ihre verhärteten, schmerzenden Schultern- und Nackenmuskeln. »Mach dir nichts draus, Liebes«, sagte er sanft. »Ich weiß, daß es schwer ist, aber du kannst es dir einfach nicht erlauben, Fehler zu machen, die dich das Leben kosten können. Doch du machst Fortschritte. Du mußt eben allerhand verlorene Zeit aufholen, das ist alles. Wenn du jetzt so weitermachst, dann bist du bald wieder in der richtigen Kampfverfassung.«
Aurian lehnte sich an seine Brust und sog den Geruch seines Schweißes und des rauhen, vernarbten Leders seiner Fechtweste ein. Seine ermunternden Worte ließen ihr warm ums Herz werden, und sie war dankbar für die muskulösen Arme, die ihren müden Leib hielten. »Schön, Forral«, murmelte sie vertrauensvoll. Er gab ihr einen flüchtigen Kuß auf die Stirn, und bei dieser leichten Berührung tat Aurians Herz einen schwindelerregenden Sprung. Eine prickelnde Hitze fuhr durch ihren Körper. Schon wieder. Das passierte jetzt jedesmal, wenn er ihr nahekam. O Forral! Sie hatte ihn schon geliebt, als sie noch ein Kind war, aber die Veränderung in der Art dieser Liebe nach seiner Rückkehr machte sie ratlos und konfus. Sie hatte sich schließlich selbst eingestanden, daß sie inzwischen mehr wollte als die herzliche Kameradschaft, die sie immer verbunden hatte. Aurian schlang ihre Arme fester um seinen Hals und blickte ihm forschend ins Gesicht, unfähig, ihr Verlangen zu verbergen. Und wie jedesmal trafen sich ihre Blicke einen schmerzhaften Moment lang, bevor er sich rasch abwandte.