O ihr Götter! Sie schenkte sich einen Kelch Wein ein, trank ihn aus und goß sich wieder ein. Ich würde alles darum geben, dachte sie, wenn es diesen Morgen nicht gegeben hätte. Zumindest wußte sie jetzt, was aus Anvar geworden war. Torl hatte einfach behauptet, er wäre verschwunden, und die meisten Leute glaubten, daß er wegen des Unfalls mit Ria davongelaufen wäre und Nexis für immer verlassen hätte. Ihre Eltern hatten natürlich geglaubt, daß er vor seiner Verantwortung für seinen Schatz und ihr gemeinsames ungeborenes Kind davonlaufe. Sara hatte es ebenfalls vorgezogen, sein Verschwinden in diesem Licht zu sehen; auf diese Weise hatte sie Vannors Werbung ohne jedes lästige Schuldgefühl annehmen können …
»Wieder beim Wein, Stiefmutter?«
Sara fuhr mit einem Fluch herum! Zanna! Vannors jüngere Tochter stand in der Tür und starrte sie wie gewöhnlich durch einen dichten Vorhang von ungebändigtem, braunem Haar an, das dem Versuch eines ganzen Bataillons von Zofen, es in Ordnung zu bringen, widerstanden hatte. Sara biß sich vor Arger auf die Lippen. Wie hatte das Balg so leise hereinschleichen können?
»Was meinst du mit ›wieder‹?« sagte sie unverfroren. Sie wußte sehr genau, daß das Mädchen sie verabscheute, und dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. Das letzte, was Sara heute gebrauchen konnte, war, daß diese kleine Hexe dafür sorgte, daß sie noch mehr Ärger mit Vannor bekam.
Antor, der kleine Sohn des Kaufmanns, dessen Geburt für Sara den Weg frei gemacht hatte, Vannor zu heiraten, war kein Problem. Er war noch zu jung, um zu verstehen, wer sie war, oder um sich einzumischen. Sara überließ ihn einfach seinen Ammen. Mit Corielle, der ältesten Tochter, fertig zu werden, war ein leichtes gewesen. Sie war im gleichen Alter wie Sara und hatte darüber hinaus die goldene Schönheit mit ihr gemein. Und sie war in dem richtigen Alter, um sich sehr für Männer zu interessieren – aber nicht nur für die Sprößlinge der reichen Kaufmannsfamilien, die ihr Vater als passende Bewerber ausersehen hatte. Es bedurfte nur gelegentlicher Großzügigkeit bei der Beaufsichtigung – einmal beide Augen zugedrückt bei einem merkwürdigen Liebesbrief oder einem geheimen Stelldichein –, und Sara hatte sie für sich gewonnen. Bei Zanna war das ganz anders. Nicht nur äußerlich ihrem Vater nachgeraten, war das Kind so geradeheraus, wie man es sich nicht schlimmer vorstellen konnte, dazu noch entschieden zu klug für ihre vierzehn Jahre. Das war doch nicht natürlich!
»Du solltest Gelda beim nächsten Mal sagen, sie soll die Flasche besser verstecken, wenn sie sie heraufbringt.« Obwohl Zanna ihre Stiefmutter mit allem Respekt behandelte, solange Vannor dabei war, wurde ihr Umgangston sofort frech und aufsässig, wenn sie unter sich waren. Saras Hand schloß sich fest um das zerbrechliche Kristall des Kelches. Götter, wie gern würde sie diese kleine Schlampe erwürgen! Als sie antwortete, war ihre Stimme gedämpft und zitterte vor Zorn.
»Hör zu, du Ausgeburt – ein einziges Wort davon zu deinem Vater, und ich werde dafür sorgen, daß es dir leid tut, daß du jemals geboren wurdest! Verstehst du mich?«
Zannas Augen verengten sich berechnend hinter dem schlaff herabhängenden Vorhang von Haaren, der Sara so irritierte. Sie hatte wirklich Vannors Blut in ihren Adern, das mußte man ihr lassen! Das kleine Biest war durch und durch ein Kaufmann. »Vielleicht«, sagte sie, anscheinend sorglos. »Ich bin mir sicher, daß jemand, der so klug ist wie du, eine Möglichkeit findet, es mir schmackhaft zu machen!«
Das war zuviel. »Hinaus!« kreischte Sara. »Sofort hinaus – und schicke Gelda herauf, damit sie hier Ordnung schafft!«
Zanna besah sich die Porzellanscherben, die auf dem Boden lagen, und ihre Gesichtsausdruck änderte sich jäh. Aus Schlauheit wurde versteinerter Haß, der bei dem jungen Mädchen erschreckend wirkte. »Das war Mutters Lieblingsvase«, sagte sie mit leiser, gepreßter Stimme. »Bei den Göttern, ich hasse dich.« Es war das erste Mal, daß sie es laut ausgesprochen hatte. Dann war sie fort und ließ eine erschütterte Sara zurück, die sich noch ein Glas einschenkte und sich fragte, wie das Kind es geschafft hatte, die Tür lautstark zuzuwerfen, nachdem ihr selbst es nicht gelungen war.
Anvar versuchte mit aller Kraft, bei Bewußtsein zu bleiben – aus Angst vor dem, was der Erzmagusch ihm antun könnte, wenn er schlief und hilflos war. Die Lady versuchte, ihm etwas Brühe einzuflößen, stützte ihn mit einem Arm, während sie die Tasse mit der wannen Flüssigkeit an seine Lippen hielt. Er konnte nichts hinunterbringen. Sein Kopf dröhnte noch von Jards furchtbarem Schlag, und sein ganzer Körper schmerzte. Es tat ihm weh, zu atmen. Sein Magen hatte sich in angstvoller Erwartung weiterer Torturen zusammengezogen. Als er Miathans Stimme hörte, der mit Forral im Vorraum redete, begann er sich heftig zu wehren, schlug die Tasse weg und überschüttete sich selbst und die Magusch mit der Brühe.
Dann war der Erzmagusch im Zimmer, stand mit vor Wut brennenden Augen turmhoch über ihm. »Du!« knurrte er. Er packte ihn und zog ihn auf die Füße. Anvar schauderte wimmernd zurück.
»Nein, Miathan!« Aurians Stimme klang entsetzt.
»Aurian, misch dich nicht ein«, sagte Miathan scharf. »Der Elende hat seine Verpflichtungen verletzt und muß bestraft werden.«
»Bestraft?« Aurians Stimme erhob sich ungläubig. »Er ist genug bestraft worden! Hast du gesehen, was Janok ihm angetan hat?«
»Sie hat recht, Miathan«, sagte Forral. »Das übersteigt jedes Maß.«
»Kümmere du dich um deine eigenen Angelegenheiten!« schnauzte Miathan den Schwertfechter an.
»Es ist meine Angelegenheit.« Forrals Miene verfinsterte sich. »Es ist meine Pflicht, dem Gesetz in Nexis Geltung zu verschaffen, und ich werde meine Augen nicht vor solcher Brutalität verschließen, ganz gleich, ob Magusch damit zu tun haben oder nicht. Selbst ein Sklave hat Rechte. Wie würdet Ihr dastehen, wenn sich diese Geschichte herumspricht?«
Anvar fühlte Hoffnung in sich aufsteigen. Sie verteidigten ihn. Sie verteidigten ihn beide, sogar die Magusch! Miathan schien in die Defensive zu geraten, aber er fing sich schnell wieder. »Mein lieber Forral, du mißverstehst mich«, sagte er. »Natürlich darf es keine Wiederholung dieses unglücklichen Zwischenfalls geben, und ich versichere dir, daß ich dieser Sache nachgehen werde – und zwar genauestens.« Während er sprach, warf er Anvar einen finsteren Blick zu. »Du solltest aber wissen, daß dieser Sterbliche ein Unruhestifter und sehr gefährlich ist.«
»Auf mich wirkt er nicht gefährlich«, sagte Forral frei heraus. »Der arme Kerl ist vor Angst halb um den Verstand gebracht. Ihr könnt ihm sicherlich diesmal verzeihen, Erzmagusch. Er hat schon genug durchgemacht.«
»Bitte, Miathan – für mich.« Aurian sah den Erzmagusch vertrauensvoll an, während sie ihre Bitte aussprach. Wäre Anvar nicht selbst in einer so verzweifelten Lage gewesen, dann hätte er über den ohnmächtigen Ausdruck auf Miathans Gesicht sicher lachen können.
»Oh, natürlich«, murmelte der Erzmagusch schließlich. »Ich werde mit Janok sprechen, wenn ich wieder in der Akademie bin.«
Als der Name des Küchenmeisters fiel, stöhnte Anvar auf.
Nicht wieder in die Küche! Er konnte nicht! Verzweifelt griff er nach der Hand der Maguschfrau, die neben ihm stand, und ließ sich vor ihr auf die Knie fallen. »Laßt nicht zu, daß sie mich dorthin zurückschicken«, bat er. »Er wird mich umbringen. Bitte …«
»Anvar!« Miathans Stimme war wie ein Peitschenhieb. »Wie kannst du es wagen! Laß Lady Aurian in Ruhe!« Er beugte sich zu Anvar herab, der sich vor Angst wegduckte und sein Gesicht in den Händen verbarg.
»Nein!« schrie er. »Bitte nicht wieder!« Er schrie noch einmal auf, als Miathans Bann seine Wirkung entfaltete; das eisige Band von Schmerz zog sich fest um seine Stirn zusammen. Hilflos zuckend fiel er zu Boden.
»Große Götter!« rief Aurian und kniete sich neben ihn.
Plötzlich war der Schmerz vorbei. Anvar, der wieder Luft bekam, blickte auf und erkannte die eindeutige Botschaft in Miathans funkelnden Augen – Wenn du etwas verrätst, wirst du sterben! Und er wußte, daß Miathan selbst den Schmerz zum Verschwinden gebracht hatte, bevor Aurian der Sache auf den Grund gehen konnte.