»Es ist schon gut«, murmelte er hilflos. »Ich bin in Ordnung.«
Aurian runzelte die Stirn. »Was zum Kuckuck war das? Ich verstehe nicht …« Sie blickte den Erzmagusch an. »Was hat er gemeint, Miathan? Du hast ihm doch nichts getan, oder?«
Der Erzmagusch lachte laut auf. »Mach dich nicht lächerlich! Es ist doch klar, daß der Bursche nicht bei Sinnen ist.«
»Das scheint mir nicht so.« Aurian schüttelte langsam den Kopf. »Nein, er ist nur verängstigt, da bin ich mir sicher. Es ist jedenfalls sehr merkwürdig. Wo kommt er her?«
»Wirklich, Aurian. Ist all dies Hin und Her jetzt unbedingt nötig?« sagte Miathan verdrossen. »Laß mich ihn zurück in die Akademie schicken, und dann können wir vielleicht endlich genießen, was vom Tag noch übrig ist.«
»Miathan, du darfst ihn nicht zurück in die Küche schicken«, bat Aurian. »Nicht nach dem, war er durchgemacht hat. Warte – ich weiß!« Ihr Gesicht hellte sich plötzlich auf. »Du hast mir schon lange einen eigenen Diener versprochen. Gib ihn mir!«
»Was?« donnerte Miathan. »Auf keinen Fall! Das kommt überhaupt nicht in Frage!«
Aurians Augen weiteten sich vor Überraschung, so unerwartet kam diese Ablehnung. Sie stand auf, baute sich vor dem Erzmagusch auf, ihre Kinnlade trotzig vorgeschoben. »Ich sehe nicht ein, warum das nicht gehen sollte. Es scheint mir die perfekte Lösung zu sein. Bitte, Miathan.«
»Nein, Aurian. Ich werde einen anderen Diener für dich finden, aber Anvar ist höchst ungeeignet. Was er braucht, ist Disziplin.«
»Unfug, Disziplin!« schnappte Aurian. »Er hatte viel zuviel Disziplin, wenn du mich fragst. War er braucht, ist Freundlichkeit.«
»Das werde ich entscheiden!« Die Luft zwischen den beiden Magusch, die sich Augen in Auge gegenüberstanden und einander wild anstarrten, schien vor Spannung zu knistern. Anvar hielt den Atem an.
»Aurian«, mischte sich Forral ein und drängte die Magusch, »vielleicht hat der Erzmagusch recht. Wenn er wirklich gefährlich …«
»Sei du bloß still!« fuhr Aurian den verblüfften Schwertkämpfer an. »Ich habe genug von euch beiden. Ich bin kein Kind mehr, das sich ständig eurer sogenannten Weisheit beugen muß.« Ihre Stimme wurde hart vor Zorn. »Ich habe in diesem Fall recht, das weiß ich. Ich will diesem armen Jungen helfen – um die Ehre der Magusch wiederherzustellen. Es ist unsere Schuld, daß es soweit mit ihm gekommen ist. Aber anstatt zuzulassen, daß ich meinem Urteil vertraue, bekomme ich von euch nichts als spitzfindige Haarspaltereien zu hören. Das ist jämmerlich!«
Miathan stand wie vom Donner gerührt. »Aurian!« brüllte er. »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen! Du gehst sofort zurück in die Akademie!«
»Das werde ich nicht!« schrie Aurian. »Du magst über die Akademie herrschen, aber du beherrscht nicht die Welt, und du beherrscht nicht mich! Mein Vater und meine Mutter sind gegangen, und ich kann das genauso tun!«
Bei diesen Worten wurde Miathans Gesicht weiß, und Anvar war erstaunt, ein plötzliches Aufflackern von Panik in seinen Augen zu sehen. Völlig unerwartet schien er jetzt nachzugeben.
»Nun gut, meine Liebe«, sagte er. »Da es dir offensichtlich so viel bedeutet, gehört Anvar dir.«
Aurian schien durch seine plötzliche Kapitulation überrascht. Die Spannung verflog, und sie errötete vor Scham. »Miathan, ich danke dir«, sagte sie sanft. »Du bist so gut zu mir. Ich hätte die Beherrschung nicht verlieren dürfen, und es tut mir wirklich leid.«
»Mir auch«, sagte Miathan herzlich. Er streckte seine Arme aus, und Aurian beeilte sich, ihn zu umarmen.
»Ich werde dafür sorgen, daß er sich benimmt«, versprach sie. »Ich schwöre dir, daß ich das werde.«
Miathan blickte sie ernst an. »Das mußt du tatsächlich. Du bist jetzt verantwortlich für diesen Sterblichen, und ich mache dich persönlich für sein Betragen haftbar. Wenn er auffällt, geht er sofort zurück in die Küche.« Er blickte Anvar scharf an. »Anvar, ich vertraue darauf, daß du die Freundlichkeit der Lady Aurian nicht ausnutzen wirst.«
Anvar erschauderte, als ihn der stählerne Blick traf. Miathan lächelte kalt. »Und jetzt, bevor ich dir gestatte, in den Dienst dieser Lady zu treten, mußt du schwören, vor diesen Zeugen, daß du nicht noch einmal versuchen wirst, zu fliehen.«
Anvar erstarrte. Er saß in der Falle! Die Magusch lächelte ihn ermutigend an. Ohne es zu wissen, hatte sie ihm mit ihrer Freundlichkeit eine Falle gestellt. Er hatte keine Wahl, und das wußte er auch. Schweren Herzens gab er sein Wort.
Der Erzmagusch schäumte vor Wut, als er durch die schneebedeckten Straßen zur Akademie zurückkehrte. Wie konnte Aurian es wagen, sich ihm zu widersetzen! Und das, wo es um seinen eigenen, verwünschten, halbblütigen Bastard ging! Miathan knirschte mit den Zähnen. Er hätte Anvar am liebsten umgebracht, den Fehltritt aus seinen jüngeren Tagen ein für allemal aus der Welt geschafft – aber er konnte es nicht. Wenn Anvar starb, dann würden die Kräfte, die er diesem Elenden gestohlen hatte, für immer verloren sein. Miathan mußte ihn am Leben halten. Er brauchte diese Kräfte.
Aurians Worte schmerzten ihn tief. Ich beherrsche also nicht die Welt? Nun, eines Tages werde ich das – und dann wird Aurian für ihre Aufsässigkeit bezahlen müssen! Und es machte sich gut, daß es gerade Anvar war, der ihm dafür die Mittel zur Verfügung stellte. Miathan lächelte. Mit den zusätzlichen magischen Kräften, die er gestohlen hatte, konnte ihn nichts mehr aufhalten. Es ging nur noch darum, abzuwarten, bis seine Zeit gekommen war, und den rechten Moment abzupassen, um zuzuschlagen.
Miathan war von der Macht fasziniert. Sein Ehrgeiz war es, die große alte Zeit wiederherzustellen, als das Maguschvolk seine Kräfte benutzt hatte, um die Rasse der Sterblichen zu beherrschen. Um dies zu erreichen, hatte er sich mit gnadenloser Schlauheit und in aller Heimlichkeit seinen Weg zum Rang des Erzmagusch gebahnt. Er und Geraint waren Freunde gewesen, bis Aurians Vater mit seiner zerstörerischen Zuneigung zu den Sterblichen als nächster Erzmagusch nominiert worden war. Es war einfach gewesen, den ›Unfall‹ zu arrangieren, der seinen Rivalen schließlich aus dem Weg räumte, aber Miathan hatte nicht mit dem Schuldgefühl gerechnet, das ihn verfolgte, seit er einen anderen Magusch umgebracht hatte. Er hatte ursprünglich vorgehabt, als Wiedergutmachung Aurian zu seiner Nachfolgerin zu machen. Aber inzwischen hatte er einen neuen Plan für Geraints Tochter entwickelt. Er wollte sie als seine Gefährtin an seiner Seite – und in seinem Bett! Bei diesem Gedanken überschwemmte eine Welle vor Verlangen den Erzmagusch. Ihre Drohung, zu gehen, ließ ihn aufs neue innerlich erstarren. Miathan wußte jetzt, daß es falsch gewesen war, Forral nach Nexis zu holen. Er hatte geglaubt, daß er durch Aurian die Kontrolle über die Stimme des Garnisonschefs im Regierenden Rat erlangen könnte, aber dieser Plan war fehlgeschlagen. Wegen ihrer Anhänglichkeit an ihren sterblichen Freund und Lehrer wurde seine Schülerin immer unlenkbarer, und ihre Loyalität zu ihm, die er über die Jahre hin mühselig aufgebaut hatte, wurde schwächer. Unglücklicherweise gab es gegenwärtig keine Möglichkeit, das Problem zu lösen. Wenn er irgendwie mit Forrals Beseitigung in Zusammenhang gebracht werden konnte, würde Aurian ihm das niemals verzeihen.
Miathan mußte sich mit Geduld wappnen. Früher oder später würde er eine Gelegenheit finden, mit dem Schwertkämpfer abzurechnen. Bis dahin mußte er sich um jeden Preis Aurians Liebe und Vertrauen erhalten. Wenn Forral erst aus dem Weg geräumt war, würde er sie schnell dazu bringen, zu tun, was er wollte, und ihre Kräfte benutzen, um seine Ziele zu verfolgen. Miathan lächelte still in sich hinein. Es konnte doch nicht so schwierig sein, einen einzigen Mann loszuwerden. Forral war doch nur ein Sterblicher, Aurian war müde, aber zufrieden. Dies war die erste Probe der Fähigkeiten gewesen, zu denen Meiriel ihr verholfen hatte, und alles war gutgegangen. Die vielen Stunden, die sie damit zugebracht hatte, die komplizierten Funktionen des menschlichen Körpers zu studieren und ihre magischen Kräfte so einzusetzen, daß Verletzungen gelindert und die natürlichen Heilungsprozesse beschleunigt wurden, waren nicht vergebens gewesen. Obwohl sie noch viel zu lernen hatte, waren ihre ersten selbständigen Bemühungen ein Erfolg gewesen. Und wie ein Arzt sich die Hände wäscht, so verscheuchte Aurian die letzten bläulich schimmernden Spuren von Maguschlicht, die ihr Heilzauber zurückgelassen hatte.