Die Tage, da Aurian abwesend war, gingen für Anvar schnell vorbei. Er mußte für Finbarr härter arbeiten, als er es für seine Lady getan hatte, aber es war für ihn eine endlose Faszination, die alten Dokumente zu sichten und zu sortieren. Der Archivar war begeistert über seine Hilfe und mehr als glücklich, sein Interesse angefacht zu haben.
Finbarr versuchte, sich das lange vernachlässigte Sortieren der Schätze, die in den unteren Etagen lagerten, für die Forschungen zu seinem Lieblingsthema – der alten Geschichte des Maguschvolkes – zunutze zu machen. »Wenn du die Annalen durchblätterst, mein Junge«, erklärte er Anvar. »Wirst du finden, daß jeder Archivar sein besonderes Steckenpferd hatte. Wir sind in einer merkwürdigen Position – die magischen Fähigkeiten eines Archivars haben kaum Bedeutung, abgesehen davon, daß man sie benutzen kann, um die Arbeit etwas zu erleichtern. Meine eigenen magischen Kräfte zum Beispiel sind hauptsächlich die der Luft und des Feuers, aber meine Vorgängerin war eine Wassermagusch, und das, was sie geleistet hat, indem sie die alleruntersten Etagen trockengelegt hat, so daß wir jetzt darin arbeiten können, ist von unschätzbarem Wert. Was aber wirklich zählt, ist Ordnungsliebe und ein unstillbarer Durst nach Wissen – das macht den echten Archivar aus!«
Während ihrer Arbeit lauschte Anvar wie gebannt, wenn Finbarr seine Theorien über die verheerenden Kriege der alten Magusch darlegte. »So vieles«, pflegte der Archivist zu klagen, »ist bei der Zerstörung von Alt-Nexis verlorengegangen. Weißt du, es gibt in den Chroniken vage, nicht weiter belegte Hinweise darauf, daß wir damals nicht die einzige Rasse des Maguschvolkes waren. Natürlich wissen wir, daß es die Drachenleute gab, obwohl unsere Kenntnisse von ihnen recht dürftig sind; aber manche Quellen – die viele meiner Vorgänger als Archivare als die schwärzeste Häresie gebrandmarkt haben, so wahr ich hier stehe – deuten darauf hin, daß die Verheerung tatsächlich von einem Magusch ausgelöst wurde, der fliegen konnte, wenn du dir das vorstellen kannst! Und nach anderen Quellen sieht es so aus, als hätte es Magusch gegeben, die im Meer lebten, und daß alle diese Rassen an der Entwicklung der vier legendären Waffen der Elemente beteiligt waren …« Er seufzte. »Wenn ich nur etwas finden könnte, das unsere Unkenntnis dieser Zeiten verringerte … Wenn diese vier Werkzeuge der Macht tatsächlich existiert haben, dann müssen sie zum größten Teil noch vorhanden sein – und wenn sie in die falschen Hände geraten sollten, dann könnte die Geschichte sich leicht wiederholen …«
Obwohl Anvar, anders als Finbarr, die Möglichkeit einer neuen Verheerung keine schlaflosen Nächte bereitete, hoffte er, daß der Archivar fände, wonach er suchte. Er wußte, daß ihn Finbarrs Suche nach Wissen um des Wissens willen früher geärgert haben würde angesichts der Armut und des Leidens, dem so viele Sterbliche ausgesetzt waren. Aber der Archivar meinte es gut, und er mußte sich ehrlicherweise eingestehen, daß er Finbarrs Enthusiasmus sehr ansteckend fand.
An einem strahlend hellen, frischen Tag, der schon vom nahen Herbst zeugte, entschied Finbarr, daß es an der Zeit war, sich mit dem alleruntersten Kellergeschoß zu beschäftigen. »Ich muß dich nutzen, so gut ich kann, bevor Aurian zurückkommt«, lächelte er. »Sie kann jetzt jeden Tag eintreffen. Ich möchte wissen, was sie sagen würde, wenn ich mich entschlösse, dich für immer zu behalten.«
Einen Augenblick lang war Anvar versucht, an dieser Idee Gefallen zu finden. Er hatte dem Archivar gern geholfen, aber was noch wichtiger war, er hatte während Aurians Abwesenheit den Erzmagusch kein einziges Mal gesehen. Als Finbarrs Diener würde er sich sicherer fühlen können, und er würde auch dem Schrecken von Miathans Besuchen bei seiner Lady entgehen. Aber dennoch verspürte er bei dem Gedanken, Aurian zu verlassen, starken Widerwillen. In letzter Zeit war er selbst erstaunt gewesen, daß er Tag für Tag auf ihre Rückkehr wartete, und er hatte sich schließlich zu seinem Erstaunen zugeben müssen, daß er sie vermißte.
Anvar folgte Finbarr hinunter durch das Gewirr von Durchgängen und Treppen, das aus dem blanken Felsmassiv geschlagen worden war. Durch die erdnahen Stockwerke, in denen der Archivar Lichter aus glühendem Kristall entzündet hatte, gingen sie abwärts, bis die einzige Beleuchtung nur noch die schimmernde Kugel magischen Lichtes war, die Finbarr ihnen vorausschickte. Ihre Schatten hüpften und tanzten in dem irisierenden Licht der silbernen Kugel wie Schattenspielfiguren auf den rauhen Felswänden.
»Ich habe mir vorgestellt, daß wir hier unten anfangen.« Finbarr duckte sich durch einen offenen Bogengang, und Anvar folgte ihm in eine kleine Steinkammer hinein, in der ringsum an den Wänden durchgebogene Holzregale standen. Alles war von Staub und Spinnweben bedeckt, und viele der Regale hatten dem Gewicht der auf ihnen lastenden Stapel von Dokumenten nachgegeben. Schriftrollen und pergamentene Bögen bedeckten haufenweise den Boden. Der Archivar seufzte. »Bei Ionor dem Weisen«, murmelte er, »meine Vorgänger haben diese unteren Etagen schändlicherweise vernachlässigt. Es ist eine Lebensaufgabe, hier Ordnung zu schaffen, Anvar, mein Freund – also ist es das beste, wir fangen einfach an.« Er griff in die Taschen seiner Robe und verzog sein Gesicht irritiert zu einer Grimasse. »Verdammt! Ich habe kein einziges Glas dabei, um uns Licht zu machen.«
»Ich werde gehen«, bot Anvar an. »Ich weiß, wo du sie aufbewahrst, Herr.«
»Nein, nein. Für den Weg hinaus in die Bibliothek und wieder zurück brauchst du den halben Tag. Außerdem ist er für den Nichteingeweihten schwer zu finden.« Finbarr zwinkerte. »Aurian würde mir nie vergeben, wenn du mir in den Eingeweiden der Erde verlorengingest. Wir werden auch so zurechtkommen.« Er warf die Kugel von magischem Licht an die Decke, aber ein wenig zu hoch, so daß sie in einer Explosion von Funken gegen den Schlußstein des Gewölbes prallte und sie in voller Dunkelheit zurückließ.
»Atzende Fledermauskacke! Das passiert mir immer.« Finbarrs Stimme hallte ärgergeladen aus der Dunkelheit.
Anvar hielt den Atem an. Er hatte bei Nacht immer sehr gut sehen können, aber diese absolute Dunkelheit hatte er nie erlebt. Sie lastete auf ihm, als ob seine Schultern das ganze Gewicht des Felsens tragen müßten. In Panik wandte er sich zur Flucht. Sein Fuß verfing sich in einem Haufen Schriftrollen, er verlor das Gleichgewicht und stürzte mit voller Wucht gegen die Wand. Die Regale über ihm ergossen eine Lawine von Papier und gesplittertem Holz auf ihn, und dann gab in einer Wolke von Staub und einem steinernen Rumpeln ein ganzer Abschnitt der Wand unter seinem Gewicht nach.
Finbarr entzündete ein neues Licht. »Bei den Göttern, Anvar! Was hast du da gefunden!« Sein junges altes Gesicht leuchtete vor Erregung. Anvar kroch aus dem Durcheinander hervor und klopfte sich den Schutt und Staub von den Kleidern. Hinter der Wand war eine Kammer – nein, eine Höhle! Auf der anderen Seite führte ein Tunnel aus ihr heraus und ließ auf weitere Geheimnisse hoffen. Finbarrs Augen glühten hingerissen, als er seine Blicke über die Schätze in der Höhle streichen ließ. Alte Folianten, deren vergoldeter Schnitt im magischen Licht aufblitzte, steckten in Truhen und lagen auf dem Boden verstreut umher, als ob sie in höchster Eile dort hinterlassen worden wären. In einer Ecke lagen Wandteppiche aufgestapelt, und verschiedene handwerkliche Arbeiten – sie wirkten wie der persönliche Besitz von jemandem – waren an der gegenüberliegenden Wand aufgetürmt. Während Anvar sich alles besah, löste sich ein schöner goldener Kelch von dem Haufen und rollte über den Boden auf ihn zu. Er wollte hineingehen, um ihn zu nehmen, aber Finbarr riß ihn zurück. »Warte! Hier liegt Magie in der Luft! Diese Höhle ist geschützt!« Er zog Anvar am Arm aus der Höhle. »Wenn ich mich nicht irre«, sagte er, »dann hast du gerade die wichtigste Entdeckung unseres Zeitalters gemacht! Wir müssen sofort den Erzmagusch holen!«
Bevor sie im Eingang des Maguschturmes verschwand, nahm Aurian den vertrauten Anblick des Hofes der Akademie in sich auf und kam zu dem Schluß, daß sie froh war, wieder zurück zu sein. Obwohl ihr Besuch bei Eilin erfreulich verlaufen war, hatte sie Forral furchtbar vermißt und sich außerdem Sorgen gemacht, wie es Anvar ergangen war. Wieder endete sie schließlich bei der Frage, warum er solche Angst vor Miathan hatte und warum der Erzmagusch eine so ausgeprägte Abneigung gegen ihn entwickelt zu haben schien. Wenn Miathan wirklich geglaubt hätte, daß Anvar ein Mörder war, wäre das eine Erklärung – aber warum hatte er dann seine Haltung nicht geändert, nachdem die Unschuld des Dieners festgestellt worden war?