Während sie ihre schweren Satteltaschen die Stufen des Maguschturmes hinaufschleppte, dachte Aurian unwillkürlich, wie schön es wäre, wenn Anvar jetzt zur Stelle wäre, um ihr zu helfen. Irgendwie hatte es sie enttäuscht, daß er nicht im Hof auf sie wartete. »Aurian, du bist verrückt!«, sagte sie sich selbst, während sie langsam die Stufen hinaufstieg. »Woher hätte er denn wissen sollen, wann ich komme? Und außerdem hat er Besseres zu tun als das.«
All ihre Gedanken an Anvar waren schlagartig vergessen, als sie ihre Räume betrat. Miathan war bereits dort und wartete auf sie. »Meine liebste Aurian!« Der Erzmagusch machte einen Schritt auf sie zu, die Hände zum Willkommen ausgestreckt. »Ich habe dich von meinem Fenster aus auf den Hof reiten sehen. Ich bin so froh, daß du sicher wieder daheim bist!« Aurian wich eilig vor seiner überschwenglichen Begrüßung zurück und ließ ihre Satteltaschen fallen. Während Miathans Arme sich um sie schlangen, erstarrte sie in Panik. Wie hatte er es geschafft, in ihre Räume zu kommen? Sie hatte geglaubt, daß sie und Anvar die einzigen Schlüssel hatten. War ihrem Diener etwas zugestoßen? Das übermütige Funkeln von Miathans Augen und seine ruckartigen Bewegungen, die seine Erregung verrieten, ließen sie zurückweichen. Es war ihr ein leichtes gewesen, sich während ihrer Abwesenheit einzureden, daß sein merkwürdiges Verhalten nur in ihrer Einbildung existierte, aber plötzlich fand sie sich eines Besseren belehrt. Und jetzt endlich hatte er es geschafft, mir ihr allein zu sein.
Als er aus den Bibliothek kam, sah Anvar Aurians Pferd draußen vorm Tor zum Maguschturm stehen, und plötzlich waren alle Gedanken an seine erstaunliche Entdeckung in den Katakomben verflogen. »Meine Lady!« rief er freudig. »Sie ist zurück!« Er lief über den Hof und die Treppen des Turmes hinauf; Finbarr folgte ihm lächelnd.
»Nein! Laß mich in Ruhe, Miathan!« Aurians Schrei erscholl gerade in dem Moment, als Anvar und Finbarr ihre Gemächer erreichten.
Anvar keuchte erschreckt auf. Der Erzmagusch! Er zerrte wie wild am Türgriff, aber die Tür war verschlossen. Ohne nachzudenken, warf er sich gegen die Tür, hämmerte laut gegen das hölzerne Türblatt und hörte den Erzmagusch fluchen. Einen Augenblick später flog die Tür auf. Der Saum von Miathans Robe glimmte und schwelte noch, seine Hände waren mit Blasen bedeckt und schwarz vor Ruß. Sein Gesicht war bleich vor Zorn. »Wie kannst du es wagen, mich zu stören«, knurrte er und erhob seine Hand zum Schlag, aber Finbarr schob sich schnell zwischen den Erzmagusch und sein Opfer. Anvar dankte den Göttern für die Geistesgegenwärtigkeit des Archivars, während sich Miathan mit einem unterdrückten Fluch schnell zurückzog.
»Ich habe dich gestört, Miathan«, sagte Finbarr seelenruhig, als wäre alles in bester Ordnung. »Du mußt die Aufregung des Dieners entschuldigen – wir haben in den Archiven eine unglaubliche Entdeckung gemacht, die du dir sofort ansehen mußt.« Ohne auf eine Erwiderung zu warten, schob er sich am verblüfften Erzmagusch vorbei in den Raum. Anvar folgte ihm auf dem Fuße, blieb aber beim Anblick seiner Herrin wie angewurzelt stehen.
Aurian stand mit dem Rücken zur Wand in einer der Zimmerecken, ihre Kleider waren zerrissen, und ihre Augen blitzten vor Wut. Ihr loses und nicht wie sonst zu einem komplizierten Zopf geflochtenes Haar fiel in einer Welle von Karminrot fast bis zum Boden. Mit einer wie zu einer Klaue gekrümmten Hand umklammerte sie einen glühenden Feuerball, und ein rauchender Flecken auf dem Teppich bewies, daß es nicht der erste war. Als sie Finbarr und ihren Diener sah, ließ die Magusch die Flamme zwischen ihren Fingern langsam verlöschen und lehnte sich weiß und zitternd an die Wand.
Anvar war starr vor Zorn, aber Finbarr ergriff seinen Arm und hielt ihn zurück. »Ist irgend etwas nicht in Ordnung, Aurian?«
Er sah den Erzmagusch scharf an. Miathan zuckte die Achseln. »Ein einfaches Experiment mit Feuermagie, das mißglückt ist«, erwiderte er kühl. »Ich versuchte gerade, ihr zu helfen, als du dazukamst.«
»Soll ich nach Meiriel schicken?« fragte Finbarr den Erzmagusch, aber seine Augen wandten sich Aurian zu, während er sprach.
»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Miathan kurz angebunden. Dann wandte er sich zur Tür, wieder ganz Freundlichkeit. »Nun, wollen wir gehen und uns eure erstaunliche Entdeckung ansehen? Die Lady wird sich uns sicherlich ebenfalls anschließen.« Es war fast ein Befehl, und Anvar verstand, daß der Erzmagusch sie nicht zurücklassen wollte.
»Sie kann nachkommen, wenn sie sich erholt hat«, sagte Finbarr munter. »Ich weiß, wie kräftezehrend diese – Experimente sein können. Komm, Erzmagusch – die Sache duldet keinen Aufschub.« Er führte Miathan aus dem Raum. Dann drehte er sich noch einmal mit ernster Miene zu Anvar um. »Kümmere dich um deine Herrin«, flüsterte er. »Ich werde Miathan übernehmen.« Mit diesen Worten war er fort.
Aurian durchquerte langsam das Zimmer und setzte sich auf die Couch, schaudernd, ihr Gesicht in den Händen verborgen. »Er hat auf mich gewartet«, flüsterte sie. »Als ich zurückkam, war er schon hier. Er – er schien wie von Sinnen zu sein, Anvar! Er sagte, er sei lange genug geduldig gewesen, und er wolle nicht länger warten. O ihr Götter!« Ihr Stöhnen war fast ein Seufzer. »Wie konnte er nur! Er war immer wie ein Vater zu mir!«
Da er nicht wußte, was er sonst machen sollte, schüttete Anvar ihr ein Glas Wein ein. Sie nahm es dankbar an, und er kniete sich ihr zu Füßen. Er konnte es kaum ertragen, ihr in die erschrockenen, leidgeprüften Augen zu sehen. »Herrin – er hat doch nicht …«
Aurian verzog ihr Gesicht und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Aber er war verdammt nah dran! Es ist gut, daß ich mich zu wehren weiß!«
Anvar sah Tränen in ihren Augen aufschimmern, und ein merkwürdiger Wille, sie zu beschützen, überkam ihn. Er ging das Wagnis ein, ihre Hände zu nehmen. »Mach dir keine Sorgen, Herrin. Finbarr hat gesehen, was passiert ist. Er hat gesagt, er werde mit dem Erzmagusch reden – und außerdem«, fügte er entschlossen hinzu, »wird Miathan nicht noch einmal solch eine Gelegenheit bekommen, darauf werde ich achten! Ich werde immer bei dir sein, egal was er sagt. Ich werde dich niemals mit ihm alleinlassen, das verspreche ich.«
»Ich danke dir dafür, Anvar. Ich weiß, daß es schwer für dich ist, weil du Angst vor ihm hast – und jetzt beginne ich auch zu begreifen, warum!« Aurian schauderte.
»Es wird alles wieder gut werden, Herrin. Vor einem Zeugen wird er ja sicherlich nichts unternehmen können.« Anvar wünschte, er hätte überzeugter klingen können.
Aurian seufzte. »Ich hoffe nur, daß du recht hast. Sonst weiß ich nicht, was ich tun werde.«
11
Entscheidungskampf
Jetzt ist es wirklich Herbst geworden, dachte Aurian, als sie durch die verlassenen Straßen zur Garnison ritt. Es war ein schöner, klarer Morgen, und die erste Sonne ließ ihre goldenen Finger über die Dächer der Stadt gleiten; aber ihr Licht war schon etwas blasser, die Luft kühler und frischer geworden. Zum ersten Mal seit Monaten trug Aurian ihren Umhang. Miathan hatte ihr einen neuen geschenkt, einen verschwenderischen Mantel aus dicker weicher Wolle in ihrer Lieblingsfarbe, Smaragdgrün, der aber unbenutzt hinter der Tür ihres Zimmer hing. Sie trug Forrals unverwüstlichen alten Soldatenrock aus der rauhen öligen Wolle der Gebirgsschafe. Sie wußte, daß das kindisch war, aber wenn sie Forrals abgelegten Mantel trug, dann schien ihr das ihn näherzubringen. Der Schwertkämpfer hielt immer noch eine spürbare, unüberbrückbare Distanz zwischen ihnen aufrecht, und sie war der Verzweiflung nahe. Sie liebte ihn nun schon so lange! Schon seit ihrer Kindheit. Sie hatte damals nicht gewußt, daß es einer Magusch verboten war, einen Sterblichen zu lieben, und jetzt war es zu spät. Wie sollte sie jemals einen anderen lieben können?