Das brachte sie zurück zu ihrem anderen, wesentlich dringlicheren Problem: Miathan. Seit der Erzmagusch sie als seine Schülerin angenommen hatte, war sie von ihm wie eine Lieblingstochter behandelt worden, und wie eine solche hatte sie ihn geliebt und respektiert. Aber der Vorfall von gestern hatte alles verändert. Aurian schauderte. Sie war nicht in der Lage, das Gefühl von Unreinheit zu unterdrücken, das immer wieder aus unbekannten Tiefen ihres Bewußtseins emporgekrochen kam. Obwohl sie niemals einen Liebhaber gehabt hatte, wußte sie durch ihre derben Freunde in der Garnison genug, und die Vorstellung, mit Miathan das Bett zu teilen, erfüllte sie mit Abscheu. Seine Grausamkeit zu Anvar war der erste Grund gewesen, an ihm zu zweifeln – hatte er vielleicht absichtlich die Lüge verbreitet, daß der Diener ein Mörder war? Aurian wußte, daß sie dem Erzmagusch nie wieder würde trauen können, und ihre Beziehung zu ihm würde für immer gezeichnet sein durch eine untergründige Furcht. Gestern abend hatte sie es in der allgemeinen Aufregung über Anvars Entdeckung vermeiden können, mit Miathan allein zu sein, aber wie lange würde sie ihn meiden können? Er war der Mächtigste in der ganzen Stadt und konnte sich nehmen, was er wollte.
Keinem und keiner der anderen Magusch außer Finbarr und D’arvan wagte Aurian noch zu vertrauen. Wenn das, was jetzt geschehen war, von Anfang an in Miathans Absicht gelegen hatte, dann konnte jeder von ihnen, dann konnten sie alle in den Plan eingeweiht gewesen sein. Vom Erzmagusch erwählt zu werden galt als die größte Ehre. Eliseth würde ihren rechten Arm dafür geben, dachte Aurian ironisch. Sie überlegte, ob sie die Sache mit Maya besprechen sollte – aber dann würde Forral sicherlich davon erfahren, und das wollte sie verhindern, da sie sehr gut wußte, wie er reagieren würde. Er war kein Gegner für den Erzmagusch. Es hat keinen Zweck, dachte Aurian verzweifelt. Ich sollte Nexis verlassen und zurück in das Tal meiner Mutter gehen. Aber obwohl das die einzige vernünftige Möglichkeit war, konnte sie nicht verhindern, daß ihr allein bei dem Gedanken die Tränen kamen. Wie kann ich fortgehen? Wie wird es Anvar ohne mich ergehen? Aber er gehört der Akademie – man würde mir nicht gestatten, ihn mitzunehmen! Und wie könnte ich Finbarr und Maya und Parric und Vannor verlassen? Und, ach – Forral! Wie sollte ich es ertragen, ihn noch einmal zu verlieren? Immer noch müde von dem schockierenden Erlebnis des Vortages, kreisten ihre Gedanken nach der schlaflosen Nacht in hoffnungsloser Betrübnis, ohne einer Entscheidung auch nur einen Schritt näher zu kommen.
Ganz in ihren Sorgen befangen und ohne zu bemerken, daß sie ihr Ziel schon erreicht hatte, ritt die Magusch durch den großen steinernen Torbogen der Garnison. Zu spät hörte sie den Donner von Huf schlagen auf sich zukommen. Ihr Training rettete sie – und ihr blinder Instinkt. Sie spürte noch den Luftzug des sausenden Schwertstreiches über ihrem Kopf, während sie schon unter den Bauch ihres Pferdes abtauchte; ein Fuß war noch im Steigbügel, und mit einer Hand hielt sie die Zügel und den Sattelknauf umklammert. Mit der freien Hand zog sie ihren Dolch und schlitzte den Sattelgurt des Pferdes auf, das ihren Angreifer trug, während er sie passierte; dann schwang sie sich wieder hinauf in den Sattel, riß ihr Pferd herum und konnte gerade noch sehen, wie der Sattel des anderen sich neigte, überkippte und den Reiter in den Staub des Übungsplatzes beförderte. Aurian grinste. Parric, mit dem sie in der letzten Zeit trainiert hatte, saß auf der festgetrampelten Erde und fluchte entsetzlich.
»Gewonnen!« frohlockte Aurian. Ihre Sorgen waren für einen Augenblick vergessen. »Das macht ein Bier, Parric.«
Der untersetzte Hauptmann der Reiterei blickte sie säuerlich an und spuckte einen Mund voll Staub aus. »Pah! Ein Bier, jawohl? Du warst so verdammt langsam, daß ich dir den Kopf hätte abschlagen können, wenn ich gewollt hätte!«
»Unfug!« gab Aurian zurück. »Was machst du dann da unten? Komm schon, gib zu, daß ich gewonnen habe.«
»Hast du nicht!«
»Habe ich doch!«
Sie sah sich nach Unterstützung um und entdeckte Maya drüben auf der Bogenschießbahn an der anderen Seite des Übungsplatzes. Maya sah D’arvan zu, der mit Fional, dem Meisterschützen der Garnison, ein Wettschießen machte. »Maya, hast du zugeschaut?« rief sie. »Habe ich gewonnen oder nicht?«
Forrals Stellvertreterin war, seit D’arvan es sich angewöhnt hatte, zusammen mit Aurian zur Garnison zu kommen, meist in Gesellschaft des Zwillings zu finden. Aurian freute sich, daß der schüchterne junge Magusch eine Freundin außerhalb der Akademie gefunden hatte. Der Verrat seines Bruders Davorshan hatte ihn zuerst hart getroffen. D’arvans erste Besuche in der Garnison hatten Aurian fast verzweifeln lassen, so anstrengend und schrecklich waren sie, bis er seine Schüchternheit schließlich vor allem durch die Entdeckung seines unglaublichen Talents für das Bogenschießen überwunden hatte. Und mit der Zeit hatte Maya dann sein Vertrauen gewonnen und damit eine schwere Last von Aurians Schultern genommen. Die Zwillinge schienen inzwischen zu einer Art Waffenstillstand gekommen zu sein – sie hatten getrennte Räume bezogen und offenbar gelernt, mit den Differenzen, die zu ihrer Entfremdung geführt hatten, zu leben. Und Aurian war zu ihrer Überraschung für ihre Freundlichkeit D’arvan gegenüber wohl belohnt worden, denn sie hatte in ihm an der Akademie einen Freund gefunden, dort, wo sie zuletzt damit gerechnet hätte.
Aurian wurde durch Parrics Stimme aus ihren Gedanken gerissen. »Nun, du hast sie gehört – hat sie gewonnen?«
Fional zuckte nur die Achseln, und D’arvan, der sich ganz auf seinen Schuß konzentrierte, winkte den beiden Streithähnen geistesabwesend zu. Maya jedoch kam zu ihnen herübergeschlendert und grinste. »Parric hat recht. Du warst langsam«, sagte sie zu Aurian.
»Siehst du?« höhnte der Kavalleriehauptmann. Aurian ließ die Kinnlade fallen.
»Aber«, fuhr Maya fort, »du warst effektiv. Den Gurt durchzuschneiden war der sauberste Trick, den ich seit Jahren gesehen habe! Finde dich damit ab, Parric, du hast ihr zuviel beigebracht. Der Punkt geht an Aurian.«
»Ha!« Aurian zeigte auf den kleinwüchsigen Mann. »Ich hab’s dir ja gesagt!«
»Verdammte Frauen!« murmelte Parric angewidert, während er sich aufrappelte und den Staub von seiner Rüstung klopfte. »Halten immer zusammen!«
Aurian stieg mit einem Lächeln vom Pferd. Einen Fremden, dachte sie, hätte dieser Zwischenfall in Furcht und Schrecken versetzt, aber für alle, die in der Garnison verkehrten, waren solche Überraschungsangriffe nichts Ungewohntes. Die Soldaten waren eine verschworene Gemeinschaft. Sie hatten in der Stadt und deren Umgebung die Polizeigewalt inne, mußte mit jeder Schwierigkeit fertig werden und die Schlachten schlagen und die Kriege führen, die der Rat für nötig hielt. Die Gefahren ihres Berufsstandes waren ihnen wohl bewußt. Deswegen die lebensgefährlichen Streiche, die sie einander spielten. Sie trieben sich selbst und ihre Kameraden an ihre Grenzen, aus Freundschaft – um ihre Geistesgegenwart und ihre Geschicklichkeit zu schulen und ihre Überlebenschancen zu erhöhen. Das hatte sich als sehr wirksam erwiesen. Dank Forral und ihren Kampfgefährten war Aurian jetzt eine bessere Kämpferin als jemals zuvor, und die Freundschaften, die sie hier geschlossen hatte, waren mehr wert als Gold.
Aurian merkte plötzlich, daß Maya mit ihr sprach. »Was hast du gesagt?«
»Ich sagte, wie war der Besuch bei deiner Mutter?«
»Oh, ich weiß nicht – ■ so wie beim letzten Mal.« Bei den Göttern, war es erst gestern gewesen, daß sie zurückgekehrt war? Aurian konnte es kaum glauben.