»Ehrlich gesagt, du scheinst heute morgen gar nicht ganz da zu sein«, sagte Maya. Mit untergehakten Armen flanierten die beiden Frauen auf das scheunenartige Bauwerk zu, in dem sich der Fechtplatz der Garnison befand.
»Ich bin die ganze Nacht aufgewesen. Das hättest du auch von D’arvan erfahren könne, wenn es dir gelungen wäre, seine Aufmerksamkeit einen Moment lang vom Bogenschießen abzulenken«, erklärte Aurian. »An der Akademie herrscht große Aufregung. Finbarr hat unter den Kellern des Archivs irgendwelche Höhlen voller Dokumente gefunden, die vielleicht etwas über die verlorene Geschichte des Maguschvolkes vor der Verheerung enthalten.«
Maya schauderte bei der Erwähnung der lange zurückliegenden magischen Kriege, die fast die Welt zerstört hätten, und machte ein beschwörendes Zeichen gegen das Böse. »Bei den Göttern«, sagte sie, »ich dachte, alles sei zerstört worden.«
»Das dachten wir alle, aber offensichtlich hatte irgend jemand soviel Verstand, das ganze Zeug in Sicherheit zu bringen. Obwohl die Akademie jener Zeit zusammen mit dem Rest der Stadt dem Erdboden gleichgemacht wurde, konnten diese Dinge die Jahrhunderte überdauern«, sagte Aurian. »Wir haben die halbe Nacht gebraucht, um die Bannzauber, die die Höhle schützten, aufzuheben, so daß wir hinein konnten, und dann fingen die Sachen an, sich aufzulösen und zu zerfallen. Den Rest der Nacht haben wir dann gebraucht, durch Bewahrungszauber alles vor dem endgültigen Untergang zu bewahren.«
»Wenn du mich fragst, dann hättet ihr die Sachen sich selbst überlassen sollen«, sagte Maya düster. »Denk an meine Worte, Aurian. Es kann nichts Gutes daraus werden, wenn man altes Übel ausgräbt.«
Bei den Worten ihrer Freundin spürte Aurian ein Prickeln auf der Haut. Der Tag schien sich mit den Vorahnungen einer heraufdräuenden Katastrophe zu verdüstern. Ein Kälteschauer überfuhr sie.
»Was ist los?« fragte Maya scharf.
»Nichts. Ich bin müde, das ist alles.« Sie versuchte, sich selbst davon zu überzeugen, daß es sich so verhielt.
»Bist du dir sicher, daß du heute morgen fechten willst?« Maya klang besorgt. »Wenn man müde ist, macht man leicht Fehler, weißt du.«
Aurian blieb abrupt stehen. »Großer Chathak, das hatte ich ganz vergessen!«
»Wundervoll«, sagte Maya trocken. »In diesem Jahr hat Forral dich vor allen anderen aus der Garnison als seinen Partner bei dem Demonstrationsgefecht für unsere frischen Rekruten ausgewählt, und du vergißt es. Es ist eine Ehre, die nur dem besten Kämpfer des Standorts zuteil wird. Kein Wunder, daß dir solch eine Kleinigkeit entfallen ist!«
»Oh, sei still Maya!« wehrte sich Aurian.
»Die ganze Nacht aufzubleiben hat jedenfalls nichts an deiner Muffeligkeit in den frühen Morgenstunden geändert!« neckte Maya sie; dann wurde ihr Gesicht ernst. »Es tut mir leid, Aurian. Ich spüre, daß dich etwas quält. Möchtest du vielleicht darüber reden? Wir haben jetzt etwas Zeit. Forral hat wieder verschlafen.« Sie verzog das Gesicht.
Aurian seufzte. Das Mitgefühl ihrer Freundin ließ sie beinahe versucht sein, all ihre Sorgen auszusprechen. Es kostete sie große Anstrengung, sich zusammenzunehmen. »Danke, Maya. Aber es ist etwas, mit dem ich allein fertig werden muß«, sagte sie. »Doch wenn uns noch etwas Zeit bleibt, dann gäbe ich alles für etwas Taillin.«
Als sie in der verlassenen Kantine vor ihren dampfenden Tassen saßen, ging Maya wieder zum Angriff über. »Es ist doch nicht diese Sache mit Forral, oder?« fragte sie.
»Was?« Einen Moment lang dachte Aurian, ihre Freundin hätte ihre Gefühle für den Schwertkämpfer entdeckt, aber Mayas nächste Worte belehrten sie eines Besseren.
»Er hat es geschafft, es vor fast allen in der Garnison zu verbergen, aber niemand kann derartig viel trinken, ohne daß es früher oder später ans Licht kommt.«
Aurians Herz sank ihr in die Knie. »Wie lange geht das schon so?«
Maya zuckte die Schultern. »Seit Wochen – eigentlich seit Monaten. Aber in letzter Zeit ist es schlimmer geworden, und als Forrals Freund und auch als seine Stellvertreterin bin ich besorgt. Er läßt nach, Aurian. Ich kann die Anzeichen dafür bereits erkennen, und du weißt ja, wie es hier zugeht. Früher oder später kommt jemand plötzlich über ihn, wie Parric heute morgen über dich, und Forral wird dabei übel verletzt werden.« Maya hielt inne, als sie Aurians erschreckten Gesichtsausdruck sah. »Verflucht sei mein loses Mundwerk! Du wußtest es nicht, oder?«
»Es ist schon gut«, sagte Aurian schwach. »Ich wünschte, du hättest es mir eher erzählt. Vielleicht kann ich darüber mit ihm sprechen.«
»Danke, Aurian. Es tut mir leid, dich damit zu belasten, aber vielleicht hört er auf dich. Er …« Maya schwieg plötzlich, und ihre Augen verengten sich. Sie stand abrupt auf. »Komm«, sagte sie. »Es ist Zeit zu gehen.«
Die Reihen hölzerner Bänke, die den Fechtplatz umrahmten, waren voll besetzt. Auf der einen Seite sah man die frischen Rekruten, auf der anderen Seite alle Soldaten der Garnison, die gerade keinen Dienst hatten. Der jährlich abgehaltene Freistilschaukampf, der den neuverpflichteten Soldaten zeigen sollte, was man später von ihnen erwartete, war immer spektakulär, und niemand wollte sich entgehen lassen, den besten Schwertkämpfer der Welt kämpfen zu sehen – vor allem in diesem Jahr. Forral wählte sich stets den besten Kämpfer als Gegner aus, und als er für diesen Kampf Aurian nominierte, hatte er riskiert, der Günstlingswirtschaft bezichtigt zu werden. Die Soldaten allerdings wußten es besser, und die (streng verbotenen) Wetteinsätze auf den Ausgang des Kampfes waren höher als sonst.
Die Atmosphäre war gespannt vor Erregung, als Aurian die Arena betrat. Sie hatte die Übungen und Meditationen absolviert, die ihren Körper und ihren Geist für den bevorstehenden Kampf vorbereiten sollten, aber dennoch mußte sie feststellen, daß sie Forral besorgte Blicke zuwarf. Abgesehen von einer leichten Aufschwellung um die Augen herum, schien er in bester Verfassung zu sein, und Aurian zwang sich, den Gedanken an seine Exzesse zunächst einmal aus ihrem Kopf zu verbannen. Die beiden in ärmellose Fechtwesten aus Leder, lederne Kniebundhosen und weiche Stiefel gekleideten Fechter verbeugten sich höflich voreinander, und der Kampf begann. Aurian umkreiste ihren Gegner vorsichtig, wohl wissend, daß es falsch war, sich zu eilig auf einen Schwertkämpfer von Forrals Kaliber zu stürzen. Plötzlich machte er einen Ausfall und fand eine Öffnung in ihrer Deckung, von der sie hätte schwören können, daß es sie nie gegeben hatte. Sie sprang zurück und spürte, wie die äußerste Spitze seines Schwertes über das rauhe Leder ihrer Weste streifte, genau über ihren Rippen. Gut, daß sie mit ihrer Beinarbeit so außerordentlich schnell war. Sie täuschte ein Stolpern vor und führte dann einen seitlichen Hieb. Auf Forrals linkem Arm zeigte sich ein Gerinsel von Blut, und gleichzeitig mit dem Publikum stöhnt Aurian überrascht auf. Das erste Blut für sie und schon so rasch! Er hätte niemals auf einen so alten Trick hereinfallen dürfen. Sie mußte etwas unternehmen. Sie griff wieder an, direkt diesmal. Forral parierte den Schlag mit seinem erhobenen Schwert, und dann standen sie gegeneinander, Nase an Nase, mit geschlossenen Klingen. Aurian hörte das Publikum wieder aufstöhnen. Es glaubte, daß sie einen Fehler gemacht hatte, dem kräftigeren, stärkeren Mann so auf den Leib zu rücken, aber sie hatte es absichtlich getan. »Lassen wir nach, alter Mann?« spottete sie sanft. »Heute ist der Tag, an dem ich dich schlagen werde, Forral.«
Sie sah Schrecken und Ärger über sein Gesicht flackern, aber um mehr zu sehen, blieb ihr keine Zeit. In einem wirbelnden Hagel von Stahl löste er sich und entwand Aurian dabei beinahe die Klinge. Dann ging der Kampf richtig los. Für Aurian schien sich die Zeit zu verlangsamen, während sie und Forral ihren komplizierten Tanz des Todes auf dem Sand der Arena zelebrierten. Alle anderen Sorgen waren vergessen, die Welt bestand nur noch aus ihr selbst, ihrem Gegner und dem schimmernden Stahl, den sie schwangen.