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Der Nachtfahrer

Es war der Tag vor dem Sonnenwendabend, aber Vannors Tochter Zanna mußte feststellen, daß es mit der Jahreszeit der Nächstenliebe nicht viel auf sich hatte. Sie und die Haushälterin Dulsina mußte für Vannor, der einen furchtbaren Wutanfall gehabt hatte, auf die Lebensmittelmärkte der Großen Arkade gehen und dort Besorgungen machen.

Es war natürlich alles Saras Schuld. Die Festmahlzeiten erforderten eine ausgefeilte Vorausplanung, und Hebba, die schon seit Jahren für die Familie kochte, hatte ihre Arbeiten in einem einwandfreien Zeitplan organisiert bis hin zum letzten delikaten Bissen. Als Sara entschieden hatte, daß der Tag vor dem Beginn der Sonnenwendfeierlichkeiten der richtige Zeitpunkt sei, um einige Änderungen zu verlangen, war Hebbas Reaktion daher eine Mischung aus Schrecken, Empörung und äußerster Panik gewesen. Vannor war außer Haus, und seine älteste Tochter Corielle hatte vor einiger Zeit den Sohn eines wohlhabenden Kapitäns geheiratet und war mit ihrem frisch angetrauten Ehemann in die Hafenstadt Easthaven umgezogen. Es blieb wie üblich an Zanna hängen, mit den Schwierigkeiten fertig zu werden, so gut sie konnte.

Da Hebba den Küchenmädchen die Besorgungen nicht zugetraut hatte (»Was? Diese Mädchen hinschicken, damit sie dort den ganzen Tag vertrödeln und verbummeln?«), waren Dulsina und Zanna mit einer langen Liste von Delikatessen von der aufgebrachten Köchin, die in ihrer Aufregung die ganze Küche auf den Kopf stellte, losgeschickt worden. Zanna war froh, wegzukommen – die beiden Küchenmägde waren schon in Tränen aufgelöst.

Zanna konnte es der armen Hebba nicht übelnehmen, aber ihr mißfiel die Tatsache, daß der ganze Rest des Haushaltes und vor allem sie selbst die Temperamentsausbrüche der Köchin über sich ergehen lassen mußten, während Sara sich wie üblich den Folgen ihrer Gedankenlosigkeit entzog. Hebba mochte Sara zwar hinter deren Rücken als ›kleines Gassenkind‹ bezeichnen, aber sie hütete sich, sich mit der Herrin des Hauses ernsthaft anzulegen.

So kurz vor der Sonnenwende war es in den Großen Arkaden brechend voll. Zuerst hatte Zanna das rege Treiben genossen. Die langen Säulengänge wurden von endlosen Reihen glühender Lampen hell erleuchtet, und die Luft duftete nach den Aromen von Gewürzen, Käse, geräuchertem Fleisch und den Früchten der Jahreszeit. Die Händler priesen an ihren Ständen lauthals ihre Waren an, und die sich hindurchdrängenden Kunden tauschten frohe Grüße mit ihren Freunden aus, die sie in der Menge trafen.

Mit der Zeit allerdings, während die Vorräte an Delikatessen langsam zur Neige gingen, wurden die Kauflustigen müde, übellaunig und streitsüchtig. Die Menge schien immer weiter anzuwachsen, und in dem Gebäude wurde es trotz dessen ungeheurer Größe unerträglich stickig und heiß.

Zanna, die unter dem Gewicht ihrer Einkäufe stöhnte, war; tropfnaß geschwitzt. Ihre Rippen hatten blaue Flecken von den Ellbogenstößen der drängelnden Masse. Ihre Füße waren unentwegt vor sich hin getrottet; der harte Steinboden der Arkaden hatte sie ermüdet. Ihr Kopf schmerzte, sie war so durstig wie nie zuvor in ihrem Leben, und der wackelige Stapel von Paketen, den sie unter ihre schmerzenden Arme geklemmt hatte, behindert ihr Vorankommen durch die Menschenmenge.

Wirklich, dachte sie, es ist unmöglich! Wir haben jetzt genug von allem, und wenn Sara noch mehr will, dann soll sie verdammt noch mal herkommen und es sich selbst beschaffen. Sie drehte sich um, um ihren Entschluß Dulsina mitzuteilen – und mußte zu ihrem Schrecken feststellen, daß die Haushälterin nicht mehr bei ihr war. Ich muß sie in der Menge verloren haben, dachte sie. Große Götter, wie soll ich sie hier jemals wiederfinden?

Zanna versuchte stehenzubleiben und wurde von ungeduldigen Kauflustigen beschimpft, die sie grob beiseite stießen. Wegen ihrer geringen Körpergröße konnte sie nicht viel sehen und wurde hilflos weitergeschoben; sie mußte mit dem Strom schwimmen, um auf den Füßen zu bleiben. Zanna biß sich auf die Lippen, entschlossen, nicht in Panik zu verfallen. Ich muß hier herauskommen, dachte sie – aber wie?

»He, Zanna? Bist du allein?« Eine Hand griff nach Zannas Schulter. Ein winziger, aber respektvoll eingehaltener Freiraum öffnete sich um sie herum in der Menge, und zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, daß sie wieder atmen konnte. Sie sah auf und blickte mit Dankbarkeit in das freundliche Gesicht der Lady Aurian, die von Leutnant Maya von der Garnison begleitet wurde. »Götter, was für ein furchtbares Gedränge«, sagte die Magusch aufmunternd. »Ich bin nicht überrascht, daß du deine liebe Mühe hattest! Maya und ich sind hergekommen, um ein Geschenk für Forral zu kaufen, und dabei beinahe totgetreten worden!« Ihre geschwungenen Augenbrauen zogen sich zu einem leichten Stirnrunzeln zusammen. »Konnte Vannor keinen Bediensteten freistellen und mit dir schicken?«

Zanna, die sowohl Lady Aurian als auch Maya verschiedentlich getroffen hatte, wenn es ihr gelungen war, ihren Vater zu überreden, sie mit zur Garnison zu nehmen, bewunderte beide Frauen ungemein – besonders die Magusch verkörperte alles, was Zanna selbst sein wollte. Mit einer gewissen Ehrfurcht, weil sie sich in so herausragender Gesellschaft befand, erklärte sie, daß sie Dulsina verloren hatte, und erzählte ihren mitfühlenden Rettern dann die ganze Geschichte dieses katastrophalen Tages. Bei der Erwähnung von Saras Namen bemerkte sie, daß die beiden Frauen sich vielsagende Blicke zuwarfen und merkwürdige Grimassen schnitten. Aurian öffnete den Mund, als wolle sie einen Kommentar dazu abgeben, aber als sie Mayas Blick auffing, schwieg sie grimmig und schüttelte nur – fast unmerklich – den Kopf.

»Na gut«, sagte Maya frisch. »Dann wollen wir zusehen, daß wir dich und deine Pakete zum Wagen zurückbringen. Wenn Dulsina auch nur ein wenig Verstand hat, dann wird sie dort sein. Ich nehme an, sie ist inzwischen schon in heller Aufregung!«

Die Magusch und Maya teilten sich Zannas Traglast und eskortierten sie aus den Arkaden heraus. Die Menge schien vor den beiden entschlossen blickenden Frauen in Kampfkleidung wegzuschmelzen, was Zanna enorm beeindruckte.

Wie Maya es vorausgesehen hatte, trafen sie die Haushälterin unter dem großen Bogengewölbe des Eingangs. Dulsina war halb verrückt vor Sorge und gerade drauf und dran gewesen, wieder hineinzugehen und nach ihrem verlorengegangenen Schützling zu suchen.

Es war Zanna durch und durch peinlich, welches Theater Dulsina jetzt aufführte, und sie war Aurian zutiefst dankbar, daß sie dem schnell ein Ende bereitete. »Oh, es gab nichts, worüber du dir Sorgen zu machen brauchtest«, sagte sie lässig. »Zanna ist ein vernünftiges Mädchen. Sie war schon auf dem Weg hierher, als wir sie trafen, aber du weißt ja, wie lange es dauert, bis man sich durch diese Massen gearbeitet hat!«

Die Magusch half Zanna eigenhändig auf die Karre und lud auch ihre Einkäufe auf. Vannors Tochter blickte wehmütig zurück, als die Karre davonfuhr, und rief den beiden Frauen, die sich bereits abgewandt hatten und die Straße entlanggingen, noch einmal ein Dankeschön zu. Der Klang ihrer Stimmen wehte in der stillen Abendluft bis zu ihr herüber.

»Bei den Göttern, Maya«, hörte sie die Magusch sagen. »Die Frau von Vannor ist wirklich eine Hexe.«

»Wem sagst du das. Wenn es nach mir ginge, würde ich sie im Fluß versenken, in einem Sack! Hast du Lust auf ein Bier?«

Zanna mußte lächeln. Irgendwie half es ihr sehr, zu wissen, daß sie mit ihrer Meinung über ihre Stiefmutter nicht allein stand.

Die Besorgungen hatten mehr Zeit in Anspruch genommen, als Zanna erwartet hatte, und die Dämmerung senkte sich bereits herab, als sie über die Brücke zur Akademie ratterten und dann einbogen, um den bewaldeten Hügel zu ihrem Haus hinauf zu fahren. Es sah so aus, als ob es wieder schneien würde. Der dunstige Himmel über Nexis war von einem unirdischen kupferfarbenen Glühen erfüllt, in das der Rauch, der in der stillen Luft gerade wie ein Federstrich aufstieg, feine Linien ziselierte.

Zanna kuschelte sich in das dicke Fell der Wagendecke und zappelte mit ihren frostkalten Fingern und schmerzenden Füßen unruhig hin und her. Sie seufzte wehmütig bei dem Gedanken an die vielen Herdfeuer, die jetzt in den zahlreichen Häusern der Stadt vor sich hinbrannten, an den Geruch von Zitrus und Gewürzen und gebratenem Fleisch und an die hellen aufgeregten Gesichter der Kinder. Sie wußte, daß sie zu Hause etwas ganz anderes erwartete. Hebba leistete niemals gute Arbeit, wenn man sie nervös gemacht hatte, und nach dem heutigen Auf und Ab würde die Sonnenwendfeier dieses Jahres in Vannors Haus sicherlich eine Katastrophe werden.