»Hüte deine Zunge, Mädchen, oder ich werde, bei den Göttern …« Mit vor Wut und Arger verzerrtem Gesicht stampfte Vannor hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.
Mit seiner Weisheit völlig am Ende, kam er die Treppe herab – beschämt über das, was er gerade getan hatte, und immer noch aufgeregt wegen der vorhergehenden Szene mit Sara. Er betete sowohl seine Frau als auch seine Tochter an, aber warum konnten sie nicht einfach einmal versuchen, miteinander auszukommen? Er rieb sich den schmerzenden Kopf. Bei den Göttern, welch eine Nacht! Als er morgens sein Haus verlassen hatte, war noch alles seinen geregelten Gang gegangen, wie gewöhnlich. Und einige Stunden später war er zurückgekommen, um ein Chaos vorzufinden.
In der kurzen Zeit seit seiner Rückkehr hatte Vannor seinen schreienden Sohn beruhigt und ihn einer wutschnaubenden Dulsina übergeben (die, nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, wohl auch noch vorhatte, mit ihm einen Strauß auszufechten, bevor der Abend vorbei war). Er hatte das Kindermädchen entlassen, das die ganze Zeit draußen gewesen war und mit dem Gärtner getändelt hatte, während Antor drinnen auf Abenteuer aus war. Nachdem er dem in Tränen aufgelösten Mädchen befohlen hatte, seine Siebensachen zu packen, war er der wildgewordenen Köchin in die Arme gelaufen, die schon gepackt hatte und ihm verkündete, daß er sich die Festmahlzeit zur Sonnenwende in Zukunft doch besser selbst zubereiten solle, wenn ihm ihre Speisen nicht länger gut genug seien.
Hebba war mit ihrem Gepäck hinausmarschiert und hatte ihn staunend stehenlassen. Als ob das alles noch nicht genug gewesen wäre, folgte anschließend ein mörderischer Streit mit Sara, die jetzt nicht mehr mit ihm sprach, und dann hatte er auch noch seiner Lieblingstochter weh getan. Was wird das für ein verflucht miserables Sonnenwendfest, dachte Vannor bitter.
Und erst jetzt, auf dem Weg zu der hochwillkommenen Zuflucht seiner Bibliothek, fiel ihm sein Gast wieder ein. Vannor stöhnte. Wenn dieser Idiot verzweifelt genug war, ihn hier zu Hause aufzusuchen, dann konnte das nur eins heißen: Es gab sehr, sehr große Schwierigkeiten.
Yanis, der an dem prasselnden Kaminfeuer saß, sprang auf die Füße, als Vannor hereinkam. Seine wohlgeformten Züge waren angespannt und verrieten Furcht. »Vannor, es tut mir leid, daß ich hierhergekommen bin. Ich weiß, wie wichtig dir Geheimhaltung ist, aber …« Er wandte seinen Blick ab und biß sich auf die Lippen. »O ihr Götter«, murmelte er. »Es war nicht mein Fehler, das schwöre ich! Wie hätte ich wissen können, daß sie …«
»Halt, halt!« Vannor erhob seine Hand, um dem jungen Mann mitten in seiner Beschwerde Einhalt zu gebieten. »Wenn das noch mehr schlechte Nachrichten sind, Yanis, dann laß mich um der Götter willen zuerst etwas trinken!«
Vannor war an diesem Abend nicht der einzige Besucher bei Zanna gewesen. Ihre Stiefmutter war bald nach ihm gekommen. Saras Besuch war kurz gewesen, und sie hatte nur wenige Worte von sich gegeben, aber die hatten Zanna vor Furcht erstarren lassen. »Gut, du Balg – da du dich so sehr für Kinder einsetzt, solltest du vielleicht am besten selbst welche bekommen«, hatte sie mit ekelhafter Süßlichkeit bemerkt. »Da du inzwischen fünfzehn geworden bist, muß ich wohl meine Pflichten als Stiefmutter etwas ernster nehmen und mich langsam nach einem passenden Ehemann für dich umschauen!« Und schon war sie in einem bunten Wirbel ihrer Röcke wieder fort gewesen.
Es dauerte lange, bis Zanna sich richtig ausgeweint hatte. Sie lag wach in der Dunkelheit, erfüllt von Zukunftsangst. Sie wußte, daß Sara nun nicht mehr ruhen würde, bis ihre aufrührerische Stieftochter für immer aus dem Weg war. Vannors Tochter war praktisch veranlagt und pflegte den Dingen direkt ins Gesicht zu sehen. Ihre Verheiratung war ganz offensichtlich die Lösung für Saras Probleme. Zanna spürte, wie sie ein Kälteschauer durchfuhr. O ihr Götter, dachte sie. Sie wird mich wie ein dummes Püppchen kleiden, Vannor dazu bringen, mir eine enorme Mitgift zu geben, und mich dem erstbesten hirnlosen, überbehüteten Kaufmannssöhnchen ausliefern, der es auf das Geld abgesehen hat! Der Gedanke erfüllte sie mit solcher Panik, daß sie nur noch weglaufen wollte – aber wo konnte sie schon hin? Plötzlich mußte sie ohne ersichtlichen Grund an das Gesicht des geheimnisvollen Besuchers ihres Vaters denken: seine zottigen, dunklen Haare, die ihm halb über die dunkelgrauen Augen fielen, seine gekräuselten Augenwinkel, während er amüsiert die Szene in Saras Schlafzimmer beobachtet hatte.
Geräuschlos öffnete sich die Tür zu ihrem Zimmer. Zanna erschrak und errötete, als ständen ihr ihre Gedanken auf der Stirn geschrieben. Zu ihrer Überraschung stellte sich heraus, daß Dulsina der späte Besuch war. »Schsch«, flüsterte die Haushälterin. »Mach eine Kerze an und zieh dich an. Du mußt für eine Weile verschwinden.«
»Was?« Zanna gefror. Der Schrecken verdichtete sich in ihrer Kehle zu einem erstickenden Klumpen. »Papa?« Sie schaffte es kaum, das geflüsterte Wort hervorzubringen. »Schickt er mich fort!«
»Nein, dumme Gans – als würde er das jemals fertigbringen! Hör zu, Zanna. Deine Stiefmutter gebärdet sich heute abend so wild wie eine Wespe, die man in der Flasche gefangen hat. Jetzt, da es wegen dir zum Streit zwischen ihr und Vannor gekommen ist, wird sie …«
»Ich weiß, was sie vorhat«, sagte Zanna kläglich, »und es ist schlimmer, als du es dir vorstellen kannst. Sie will mich verheiraten, Dulsina!«
»Ich habe es gehört«, sagte Dulsina grimmig. »Es ist das Privileg einer Haushälterin, mitzuhören! Nicht, daß Vannor so ein herzloser Tölpel wäre, dich gegen deinen Willen zu einer Heirat zu zwingen … Aber du weißt ja, wie wichtig es ihm ist, daß seine Töchter gute Partien machen – du würdest immer unter dem Druck stehen, einzuwilligen. Jedenfalls bist du noch zu jung, um an Ehemänner zu denken, ganz gleich, wie die Gepflogenheiten dieser hirnlosen Kaufleute sind! Ich habe vor, dich zu meiner Schwester Remana zu schicken, bis sich hier die Wogen geglättet haben. Antor kann ebenfalls mit – ein Weilchen ohne euch beide bringt Vannor, diesen alten Trottel, vielleicht wieder zu Verstand.«
Zanna fragte sich, ob sie träumte. Obwohl es vielleicht klug war, zu verschwinden, bis Sara sich wieder beruhigt hatte, sah es der besonnenen Dulsina gar nicht ähnlich, solch einen verrückten Vorschlag zu machen. Und nie zuvor hatte sie aus dem Munde der Haushälterin Kritik an ihrem Vater gehört.
Wie in einem Taumel zog sie sich warm an und begann unter Dulsinas Anleitung, etwas Kleidung zusammenzupacken, während ihr die Haushälterin erklärte: »Du bist aus dem richtigen Holz geschnitzt, Zanna – ich weiß, daß man dir ein Geheimnis anvertrauen kann. Meine Schwester Remana ist – war, sollte ich sagen – mit Leynard verheiratet, dem Anführer der Nachtfahrer.«
Zanna schaute sie an und japste nach Luft. Das halb gefaltete Nachthemd in ihrer Hand war vergessen. Die Nachtfahrer? Diese nicht faßbaren Schmuggler, die mit den verbotenen südlichen Königreichen Handel trieben, Seide, Edelsteine und Gewürze ins Land schmuggelten und Generationen von Garnisonskommandanten zur Verzweiflung getrieben hatten? Die sittsame Dulsina hatte eine Schwester, die mit einem Schmuggler verheiratet war?
»Du solltest auch wissen«, fuhr Dulsina fort, »daß dein Papa durch den Handel mit den Nachtfahrern sein Glück gemacht hat. Der Besucher, den er heute abend empfängt, ist mein Neffe Yanis – er ist im letzten Jahr ihr Anführer geworden, nachdem Leynard nicht mehr von See zurückkam. Wenn Yanis nachher wieder zurückkehrt, wird er dich mitnehmen.« Sie machte eine Pause und zwinkerte. »Merk dir, er hat Angst vor Vannor, es ist also am besten, wenn er so wenig wie möglich von dieser Sache erfährt. Ich werde dir einen Brief an meine Schwester mitgeben – Remana wird sich um euch kümmern.«
»Aber was ist mit Papa?« protestierte Zanna. »Er wird sehr wütend sein! Und was ist, wenn Sara trotzdem einen Ehemann für mich bestimmt? Wie ich Papa kenne, wird er auf alle Fälle nachkommen und mich auf schnellstem Wege wieder zurückholen. Außerdem werde ich ihn furchtbar vermissen. Wie könnte ich ihn verlassen – und dazu noch am Sonnenwendfest?«