Forral nahm sich den großen Zinnkrug, der mitten auf dem Tisch stand, und füllte ihre Humpen damit nach. »Du kannst es dem Burschen eigentlich nicht übelnehmen, weißt du. Ich stelle es mir furchtbar vor, Sklave zu sein, selbst bei der freundlichsten Herrin. Er hat seine Familie und seine Zukunft verloren – und dann einmal angenommen, er hatte früher eine Freundin? Was ist mit ihr passiert? Bei den Göttern, diese Leibeigenschaft ist barbarisch!«
Dies war ein leidiges Thema für Forral; eines, über das es während des vergangenen Jahres immer wieder erfolglos zu Auseinandersetzungen mit den anderen Mitgliedern des Rates, vor allem mit dem Erzmagusch gekommen war. »Aber wenn sich Anvar dir nicht anvertrauen will, was kannst du dann schon groß machen?« fügte er hinzu. »Allerdings finde ich es merkwürdig, daß er dir immer noch nicht traut, nachdem du dich so für ihn eingesetzt hast.« Der Schwertkämpfer runzelte die Stirn. »Du hast eigentlich recht – es ist sonderbar, daß Miathan ihn so haßt. Die anderen Diener nimmt er doch gar nicht zur Kenntnis.« Als er Aurians düsteres Gesicht sah, versuchte er, ihre Stimmung aufzubessern. »Mach dir jetzt keine Gedanken mehr darüber, Liebes. Heut ist der Abend aufs Sonnenwendfest, und wir sollten alle fröhlich sein. Ich mache dir einen Vorschlag: Wie wär’s, wenn ich heute abend mit Anvar ausgehe, während du auf dem Fest der Magusch bist? Ich wünschte, du müßtest nicht dorthin, aber wir beide feiern dann eben einfach später. Und vielleicht möbelt es den armen Kerl ja etwas auf, wenn er mit mir und den Soldaten mitkommt.«
Aurians Züge hellten sich auf. »Das ist eine gute Idee. Ich werde es Elewin sagen, wenn ich zur Akademie zurückkomme. Es gibt ja keinen Mangel an Dienern bei der Maguschfeier heute abend, so daß Anvar eigentlich abkömmlich sein sollte. Am liebsten käme ich mit euch, aber ich möchte das Risiko nicht eingehen, Miathan gegen uns aufzubringen – nicht, solange wir mit den Magusch auf so gespanntem Fuß stehen. Jedenfalls haben Finbarr und ich uns vorgenommen, D’arvan heute abend ein wenig aufzuheitern – er kann unsere Gesellschaft gebrauchen. Es war eine schwere Zeit für ihn dieses Jahr: Sein Bruder schließt sich Eliseths Kreis an, bei ihm zeigen sich immer noch keine Anzeichen magischer Kräfte, und Miathan betrachtet ihn von Tag zu Tag mit größerem Mißfallen. Ich vermute, daß Eliseth versucht, den Erzmagusch zu überreden, D’arvan loszuwerden, so daß sie Davorshan ganz für sich hat. Es ist ein Segen, daß D’arvan in der Garnison ein paar Freunde gefunden hat – vor allem Maya –, aber an der Akademie wird er immer mehr zum Außenseiter. Es tut mir so leid für ihn.«
»Noch mehr gute Taten, hm?« Forral kicherte, aber ihr entging nicht der Funken Stolz in seinen Augen, und sie wußte, daß er ihr zustimmte.
»Na ja, es ist ja jetzt das Fest und die Zeit der Nächstenliebe und so weiter.« Aurian zog ein Gesicht. »Ich denke, ich stärke mich besser noch ein wenig. Ist noch Bier da?«
Anvar saß allein in seiner Koje in der Schlafstube der Dienerschaft und spielte eine traurige Weise auf der kleinen Holzflöte, die sein Großvater ihm vor so langer Zeit geschnitzt hatte. Die Flöte war das einzige von seinen Instrumenten, das er zur Akademie hatte mitnehmen können. Hätte er doch auch noch die anderen alle! Elewin hatte ihn auf Lady Aurians Bitte hin davon freigestellt, bei der Maguschfeier in der Akademie zu bedienen. Er freute sich, daß sie daran gedacht hatte, ihm einen freien Abend zu verschaffen. Aber was sollte er eigentlich damit anfangen? Er konnte nirgendwo hingehen. Wie gewöhnlich wanderten seine Gedanken zu den Lieben, die er verloren hatte – zum Großvater und zu seiner Mutter –, und zu Sara, die für ihn jetzt genauso verloren war. Er spielte weiter, während er sich vergebens bemühte, an etwas anderes zu denken, und seine Einsamkeit vermischte sich mit den schmerzhaft traurigen Klängen der Flöte seines Großvaters. Plötzlich schlug die Tür auf, und Kommandant Forral stand vor ihm. »Da bist du ja«, sagte er. »Ich habe dich schon überall gesucht. Was machst du hier allein, Junge? Aurian muß heute abend an der Maguschfeier teilnehmen; also haben wir uns gedacht, du hättest vielleicht Lust, mir Gesellschaft zu leisten, wenn ich mir mit den Jungs und Mädels von der Garnison ein paar Bier gönne.« Er zog den erstaunten Anvar auf die Füße und ließ ihm kaum Zeit, seinen Umhang vom Haken an der Wand zu nehmen.
Beim Anblick des fadenscheinigen Gewandes verschlug es Forral die Sprache. »Was ist denn das?« meinte er fragend. »In diesem Putzlumpen kannst du doch nicht rausgehen, Junge. Es schneit! Hier …« Er knöpfte seinen eigenen dicken, wetterfesten Soldatenumhang auf und legte ihn Anvar um die Schultern. Den alten Fetzen beförderte er mit einem Tritt unter das Bett. »So ist’s schon besser. Der Umhang paßt dir ja auch ganz gut, da wir beide ungefähr gleich groß sind. Ich weiß, ich weiß – behalt ihn einfach. Ein Geschenk zur Sonnenwende, weil du dich so gut um Aurian kümmerst. Ich habe noch einen in ihrem Zimmer, den wollen wir eben holen, und dann kann’s losgehen.«
Anvar war überwältigt. Das war seine zweite Sonnenwende an der Akademie, und während all der Zeit hatte niemand ihm jemals ein Geschenk gemacht. Er mußte schlucken, versuchte ein Dankeschön zu stammeln, aber Forral schlug ihm kameradschaftlich auf die Schulter. »Keine Ursache, Junge. Du hast es verdient. Nun laß uns sehen, daß wir in die Schänke kommen. Dort wartet ein gutes Ale darauf, von uns getrunken zu werden. Also, die Pflicht ruft!«
Anvar verbrachte wunderbare Stunden im Unsichtbaren Einhorn. Die Soldaten von der Garnison waren in bester Sonnenwendstimmung, und es gab reichlich Spaß, Gelächter und Ale. Forral ließ sich zur Sonnenwendfeier seinen Soldaten gegenüber nicht lumpen und nahm alles auf seine Rechnung. Dann stellte jemand fest, daß Anvar singen konnte, und einer der Soldaten holte ungeachtet der kläglichen Proteste des leidgeprüften Besitzers eine alte Gitarre von ihrem Platz an der Wand, wo sie nur dekorativen Zwecken gedient hatte, und gab sie Anvar. Die Lust, endlich einmal ein echtes Instrument in Händen zu halten, war stärker als Anvars Scheu, vor Publikum zu spielen, und die ganze Truppe machte mit großer Begeisterung mit. Schon bald erzitterten die Wände beim Klang der lauten, derben Soldatenlieder, deren immer wieder gleiches Thema zusammen mit der unglaublichen Lautstärke schnell dafür sorgten, daß die noch etwas nüchternen Gäste nach Hause eilten. (Der Besitzer, der die Geschwindigkeit bemerkt hatte, mit der seine Alefässer geleert wurden, hatte sich schon lange mit der Sache abgefunden.)
Allzu schnell war der Abend vorüber, und Anvars neue Freunde sagten Lebewohl. Zögerlich hängte er die geliehene Gitarre wieder an die Wand. Das bedurfte mehrerer Versuche, denn er konnte nicht genau erkennen, welcher von den beiden Nägeln der richtige war, und als noch viel schwieriger erwies es sich, ihn zu treffen. Dann traten er und Forral auf unsicheren Beinen ihren Rückweg zur Akademie an. Im spitzen Winkel aneinandergelehnt und Arm in Arm stapften sie durch den frischen, leicht verharschten Schnee. Beide hatten in ihrer freien Hand eine große Flasche Wein, und beide sangen sie, erst derbe Volkslieder, dann noch schlimmere Soldatenballaden, und sie drohten mit ihrem Lärm die ganze Stadt aufzuwecken. Anvar kümmerte das nicht. Heute nacht, und wenn es nur dies einzige Mal sein sollte, amüsierte er sich.
Das Maguschfest war für Meiriel kein Genuß. Sie schwenkte den dürftigen Rest Wein in ihrem Kelch herum und nahm einen bescheidenen Schluck. Dabei blickte sie düster auf die fröhliche Gruppe, die am Tisch gegenüber saß.