Sie setzten sich an den Tisch, und zu Anvars großer Verlegenheit erzählte Forral von Anvars improvisiertem Konzert. »Wirklich, Liebes, es war bewundernswert«, sagte er. »Unser Anvar hier spielt so Gitarre – wie du mit deinem Schwert fichst – ganz Rhythmus und Feuer und Melodie. Ich wünschte, du hättest ihn hören können.«
»Das wünschte ich mir auch«, sagte Aurian. »Es muß ja ganz wunderbar gewesen sein. Wo hast du nur gelernt, so zu spielen, Anvar?«
Weil Anvar so glücklich war und weil der Wein ihm die Zunge gelöst hatte, erzählte er ihnen schließlich, daß Ria ihm das Musizieren beigebracht und sein Großvater ihm Instrumente gebaut hatte, die ihm aber verlorengegangen waren, als er an die Akademie kam. Tränen füllten seine Augen, während er von den beiden Menschen sprach, die er so sehr geliebt hatte und die jetzt beide tot waren. Aurian wischte ihm zart eine Träne vom Gesicht. »Sei nicht traurig, Anvar. Sie sind immer noch bei dir, in deiner Begabung für die Musik, die du so sehr liebst. Sie werden immer da sein – in deinen Händen und in deinem Herzen.« Sie tauschte einen Blick mit Forral aus – einen Blick, in dem solche Liebe und Sorge lag, daß Anvar, der plötzlich alles zu verstehen schien, nicht mehr genau wußte, ob seine Tränen ihm selbst galten oder diesen beiden, die immer so freundlich zu ihm waren und deren Liebe dazu verurteilt war, eines Tages tragisch zu enden.
Ihre Gläser waren leer, und Aurian stand etwas unsicher auf, um einen Wein zu holen, der, wie sie sagte, für einen besonderen Anlaß wie geschaffen war. »Miathan hat ihn mir zur Sonnenwende geschenkt«, sagte sie und entkorkte die staubige Flasche. »Es ist einer seiner speziellen Jahrgänge. Er würde fünfzig Anfälle bekommen, wenn er herausfände, wer ihn jetzt trinkt.« Die beiden Männer kicherten, und dank des Geschenkes des Erzmagusch wurde die Feier wieder fröhlich.
Die drei sangen miteinander, ohne Begleitung und leise, weil es schon so spät war. Flüchtig ging Anvar der Gedanke durch den Kopf, daß er bald würde aufstehen müssen, um das Frühstück zu servieren. Aber er ignorierte ihn. Gab es denn überhaupt ein Morgen? Diese Nacht währte ewig in ihrem zeitlosen Gewebe von Freude. Er war ganz ergriffen von Aurians Altstimme – daß sie singen konnte, hatte er gar nicht gewußt. Als sie die Flasche bis auf den letzten Tropfen geleert hatten, waren sie wieder bei derben Balladen und albernen Kinderliedern angelangt, und alle drei waren hilflos vor Lachen.
»Oje.« Aurian schnappte nach Luft und wischte sich über die tränenden Augen. »So gut ist es mir schon lange nicht mehr gegangen!« Sie neigte die Flasche, um ihre Gläser noch einmal zu füllen, aber es kamen nur noch ein paar Tropfen heraus. »Fledermauskacke!« Sie murmelte Finbarrs Lieblingsfluch. »Das war der letzte!«
»Ich sollte sowieso gehen«, sagte Anvar und versuchte aufzustehen. »Ich muß früh aufstehen, um euch faulem Haufen euer Frühstück zu bringen!« Er hatte sich nichts weiter dabei gedacht und ausnahmsweise einmal darauf vertraut, daß niemand an seinen Worten Anstoß nehmen würde, aber auf Aurians Gesicht zeigte sich Bestürzung. »Ach Anvar, es tut mir leid. Ich habe nicht daran gedacht …«
Forral runzelte die Stirn. »Sieh mal, Junge«, sagte er, »du weißt, daß es nicht Aurians Schuld ist. Sie kann dich aus der Leibeigenschaft nicht befreien, und mir sind ebenfalls die Hände gebunden. Ich würde diese Sklaverei gleich morgen abschaffen, wenn ich nur könnte, aber ich bin im Rat in der Minderheit. Glaub nicht, daß ich es nicht versucht hätte. Aber warum der armen Aurian Vorwürfe machen? Sie hat dich nicht zum Leibeigenen gemacht – sie hat nur versucht, dir zu helfen. Behandelt sie dich wie einen Sklaven? Sie hat sich in den letzten Monaten wegen dir verrückt gemacht. Hast du das gewußt? Sie würde nichts lieber tun, als dich zu befreien, wenn sie nur könnte – und das war gerade nicht die richtige Art, ihr das zu danken.«
Das war zuviel. »Das weiß ich!« rief Anvar ärgerlich. »Aber wie kämst du dir vor, wenn du an meiner Stelle wärst? Du weißt nicht, wie es ist, nichts zu haben – keine Freiheit, keine Zukunft, keine Hoffnung! Stets voller Respekt zu sein und auf jedes Wort zu achten, damit man nicht dafür bestraft wird, unaufgefordert gesprochen zu haben; immer für jemanden parat zu stehen. Du und Lady Aurian, ihr habt euren Platz in der Welt. Ihr werdet respektiert. Und ihr habt einander, ihr liebt euch. Kann ich darauf jemals hoffen? Ich bin ein Sklave, ich habe nicht die Freiheit zu lieben. Kannst du dir vorstellen, wie einsam das macht? Für den Rest meines Lebens habe ich nichts, worauf ich mich freuen kann – nichts und niemanden für mich selbst!«
»Ach, Anvar.« Aurians Augen quollen über vor Sympathie. Sie ging zu ihm und nahm seine Hände. »Ich wünschte, es gäbe etwas, das ich tun könnte«, sagte sie sanft. Anvar, der sich bereits für seinen Ausbruch schämte, fühlte sich schuldiger als jemals zuvor.
»Herrin, es tut mir leid«, sagte er. »Es sollte sich nicht so anhören, als ob ich mich über dich beschwerte. Du warst so freundlich zu mir …« Er rang nach Worten. »Ich hätte um alles in der Welt die Stunden heute nacht nicht missen mögen.«
»Ich auch nicht«, versicherte Aurian ihm, und er wußte, daß sie seine Entschuldigung angenommen hatte. Sie wühlte in einer Schublade und zog ein kleines Päckchen mit Kräutern hervor, das sie ihm in die Tasche schob. »Misch das morgen früh in den Tee«, sagte sie. »Es ist eins von Meiriels Wundermitteln – erstklassig gegen Kopfschmerzen. Ich bin sicher, daß ich morgen früh nicht in der Lage sein werde, irgendwelche Heilversuche zu unternehmen. Schlaf, solange du willst, Anvar, und wenn du soweit bist, dann bring ein Frühstück für drei.«
Anvar vermutete, daß Miathan mit Aurian und Forral frühstücken wollte, und plötzlich war ihm der Abend verdorben. Mit einem Seufzer wandte er sich zum Gehen, aber Forral hielt ihn zurück und legte ihm den Arm auf die Schulter. »Wir verstehen ja, Junge«, sagte er sanft. »Wir beide. Ich weiß nicht, ob wir den Erzmagusch beeinflussen können, aber vielleicht können wir dich ja im nächsten Jahr für die Garnison bekommen. Du hast mir doch gesagt, daß Aurian dir ein wenig Schwertfechten beigebracht hätte. Wenn du fähig bist, das zu lernen, und wenn du Spaß daran hast, dann läßt Miathan dich vielleicht in meine Truppe eintreten. Du bist ein zu guter Mann, um dein Leben damit zu verschwenden, dich für die verdammten Magusch abzuplacken – ich bitte um Verzeihung, Liebes«, fügte er schnell hinzu, sah Aurian an und hielt sich verlegen den Mund zu. »Ich habe natürlich nicht dich gemeint.«
Zu Anvars Überraschung wurde Aurian keineswegs ärgerlich, sondern freute sich vielmehr. »Forral, was für eine wunderbare Idee!« Sie drückte den Schwertkämpfer fest an sich. Anvar hatte das Gefühl, als sei ihm ein Stein vom Herzen gefallen. In einem Anfall von Dankbarkeit nahm er Forral ebenfalls in die Arme, beteiligte sich an der allgemeinen Umarmung, und sein Mund öffnete sich zu einem breiten Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reichte. Dann drückte Aurian ihn an sich, und Forral sagte plötzlich: »Du hast Anvar ja noch gar keinen Sonnenwendkuß gegeben. Daß du das vergessen konntest!«
»Bei der Göttin«, sagte Aurian, »du hast vollkommen recht.« Sie legte ihre Arme um Anvars Hals, und er spürte, wie ihre Lippen zart wie ein Schmetterlingsflügel seine Wangen streiften.
»Das war ja jämmerlich, Mädel!« polterte Forral. »Kannst du es nicht besser? Nun mach schon, es ist Sonnenwende! Küsse ihn richtig!« Gehorsam tat sie es. Kein Kuß aus Leidenschaft, wie Forral ihn bekommen hatte, aber dennoch ein warmherziger, großzügiger Kuß, der für Anvar auf merkwürdige Weise kostbar war. Und wieder spürte er, wie sein Herz unruhig schlug und daß die Berührung ihrer weichen Lippen ihn zittern ließ.
»Das ist schon besser!« sagte Forral und machte damit schlagartig Anvar seine Anwesenheit wieder bewußt. »Du hast ihm sein Lächeln zurückgegeben* Liebes«, sagte der Schwertkämpfer zu Aurian.
»Nun, ich möchte es hoffen!« erwiderte die Magusch. Einen Augenblick lang sah sie Anvar tief in die Augen. »Du solltest öfter lächeln – es steht dir gut. Na ja, wenn sich die Dinge gut entwickeln, dann hast du ja vielleicht in der Zukunft mehr Grund zu lächeln.«