»Aber das ist doch lächerlich!«
»Das glaube ich nicht«, sagte D’arvan. »Ich habe so etwas selbst schon vermutet. Es ist die einzige Erklärung. Unsere Kräfte hängen irgendwie zusammen, und seit Davorshan entdeckt hat, auf welchem Gebiet seine Fähigkeiten liegen, ist es ihm möglich gewesen, zu einem Teil von ihnen Zugang zu gewinnen. Vielleicht könnte ich das auch, wenn ich irgendwelche Talente hätte, aber ich habe schon alles versucht …«
»Einen Moment«, sagte Aurian abrupt. »Nein, das hast du nicht! Bei den Göttern, bin ich ein Dummkopf! Warum habe ich nicht schon eher daran gedacht? Du hast die Erdmagie noch nicht erprobt, und zwar ganz einfach, weil an der Akademie niemand ist, der sie unterrichtet. D’arvan, wir werden dich zu meiner Mutter schicken. Niemand wird wissen, wo du bist – du wirst dich dort also ganz sicher fühlen können. Eilin wird dich, wenn nötig, abschirmen, und sie wird dich unterrichten. Und es würde auch für sie eine große Hilfe sein. Sie wird es nicht zugeben, aber sie benötigt dringend Gesellschaft.«
»Aber ich bin mir nicht sicher …« begann D’arvan zweifelnd.
»Humbug. Du mußt es einfach ausprobieren, verstehst du das nicht? Am Ende wirst du dann Gewißheit haben. Und du kannst deinen Bruder mit dieser Geschichte nicht ungeschoren davonkommen lassen!«
»Nun ja … Ich habe die Pflanzen immer gern gehabt und auch …«
»Natürlich hast du das.« Aurian merkte, daß D’arvan die Augen zufielen. »Also, ruh dich jetzt erst einmal aus. Ich werde eine Decke besorgen, dann kannst du hier auf der Couch schlafen. Hier bist du sicher, und morgen oder übermorgen wollen wir sehen, daß wir dich heimlich aus der Stadt schaffen. Auf keinen Fall dürfen die anderen Magusch erfahren, wo du bist, und wir müssen auch dafür sorgen, daß sie es nicht herausfinden können.«
»Ich werde Maya mit ihm schicken«, schlug Forral vor. »Sie wird dafür sorgen, daß er sicher dort ankommt.«
»Natürlich begleite ich ihn«, sagte Maya. Sie beugte sich zu dem jungen Magusch hinab und umarmte ihn. »Mach dir keine Sorgen«, sagte sie zu ihm. »Wir werden uns um dich kümmern.«
Als Maya und Parric zu Bett gegangen waren, standen Aurian und Forral noch eine Weile Arm in Arm vor der Couch und betrachteten den schlafenden Magusch. »Armer Kerl«, sagte Forral leise. »Dank sei der Göttin, daß er sich wenigstens an dich wenden konnte – aber du hast dich ja immer um die Schwierigkeiten anderer gekümmert. Meine Herzallerliebste, was wärst du für ein Erzmagusch!«
Jetzt, nachdem D’arvan endlich eingeschlafen war, konnte Aurian ihren Zorn über die Art und Weise, wie man ihn behandelt hatte, nicht länger zurückhalten. »Ich will nicht deren verdammter Erzmagusch sein! Mir gefällt nicht, was dort oben vor sich geht. Nichts ist dort mehr so, wie es sein sollte, und Miathan – nun, nach der Art und Weise, wie er Anvar behandelt hat und – und nun dies …« Sie brachte es immer noch nicht fertig, Forral zu erzählen, daß der Erzmagusch versucht hatte, sie zu vergewaltigen. Aber ihr Entschluß stand jetzt fest. »Forral, mir reicht es jetzt! Ich habe genug von der Akademie – und von den Magusch; jedenfalls von den meisten von ihnen. Wir verfügen über so viele Kräfte und Fähigkeiten, aber wir denken nie dran, sie einzusetzen, um dem Volk zu helfen. Wir könnten schon soviel Gutes gewirkt haben, wenn wir nicht so arrogant und nur mit uns selbst beschäftigt wären. Ich will fort – um meinen eigenen Weg in der Welt zu finden. Und ich will bei dir sein – die ganze Zeit, nicht nur für diese flüchtigen Momente!«
Forral sah sie ernst an. »Vielleicht hast du recht«, sagte er sanft. »Ich denke schon lange so über die Magusch – bei den Göttern, wenn du nicht gewesen wärst, dann wäre ich schon vor Jahren gegangen. Natürlich können wir gehen, Liebes. Aber wir müssen alles sorgfältig planen, und dann müssen wir sehr schnell und sehr weit fliehen, um Miathan zu entkommen. Er wird dich nicht so ohne weiteres gehen lassen.«
»Wir müssen auch Anvar mitnehmen«, sagte Aurian drängend. Sie blickte sich nach ihrem Diener um, der auf einem Stuhl saß und eingeschlafen war. »Zumindest können wir ihm seine Freiheit zurückgeben.« Vorsichtig, damit er nicht wach wurde, bedeckte sie ihn mit einer weiteren Decke aus Forrals Schlafkammer.
»Wir könnten alle etwas Schlaf brauchen«, schlug Forral vor. »Wenn D’arvan und Maya erst einmal sicher auf ihren Weg gebracht sind, dann können wir für uns selbst die Pläne schmieden.« Er gähnte. »Komm, Liebes. Komm zu Bett. Wir sind zu müde, um noch klar zu denken – und ich muß morgen früh gut ausgeschlafen sein. Mir steht im Rat wieder ein Kampf mit dem verfluchten Erzmagusch bevor – kannst du dir vorstellen, daß er schon wieder die Abwasserabgabe erhöhen will? Er wird keine Ruhe geben, bis er diese Stadt völlig ausgesaugt hat. Wenn dies mein letzter Kampf mit ihm sein soll, dann muß es wenigstens ein guter Auftritt werden – vor allem nach dem, was ich heute abend gesehen habe!«
Aurian ging dankbar mit ihrem Liebsten zu Bett, um sofort die traurige Feststellung machen zu müssen, daß sie kaum noch etwas hatten, um sich damit zuzudecken. »Du ziehst mir besser heute nacht nicht die Bettdecke weg«, sagte sie zu Forral. »Ich friere sowieso schon dauernd.« Sie kuschelte sich an ihn. »Das erinnert mich daran, wie ich dir damals, als ich noch klein war, alle meine Decken gebracht habe, damit du bei uns im Tal bleiben konntest.« Sie schlang ihre Arme um ihn. »Ach, bei den Göttern, Forral, ich liebe dich! Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dich zu verlieren.«
Forral drückte sie fest an sich und strich ihr übers Haar. »Du wirst mich niemals verlieren«, versicherte er ihr. »Niemals, solange ich lebe.«
Während er sprach, verspürte Aurian wieder das stechende Gefühl einer drohenden Vorahnung – wie Eis, das über ihre Haut schabte. Sie schauderte und schloß Forral noch fester in ihre Arme, bis er grunzend einen schläfrigen Protest vorbrachte. Das kann nicht sein, versicherte sie sich selbst verzweifelt. Ich bin müde und erschöpft, das ist alles – ich bilde mir etwas ein. Sie schloß die Augen fest zu und tat ihr möglichstes, um die Befürchtungen aus dem Sinn zu bekommen. Aber trotz aller Erschöpfung fand Aurian in dieser Nacht keinen Schlaf.
14
Die Todesgeister
Die Tagungen des Rates der Drei wurden in der Gildehalle abgehalten, einem gewaltigen Rundbau in der Nähe der Großen Arkaden. Die Beschlüsse, die über die Stadt bestimmten, wurden an einem kleinen, vergoldeten Tisch in der Mitte des großen runden Saales getroffen, und jeder, der den Verhandlungen beiwohnen wollte, konnte von der Galerie der Eingangshalle aus zuschauen und zuhören; normalerweise waren jedoch immer nur einige wenige Unerschütterliche anwesend. Narvish, der Stadtschreiber, saß mit den dreien am Tisch um die Sitzung zu protokollieren.
Als Forral an der Gildehalle eintraf, war die gesamte Galerie voll besetzt. Das Interesse an dieser Sitzung war ungewöhnlich groß, weil die Angelegenheit, über die verhandelt wurde, jeden einzelnen betraf, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in der Stadt. Der Erzmagusch wollte die Abwasserabgabe erhöhen. Diese symbolische Abgabe zahlte jeder Bürger von Nexis den Magusch dafür, daß sie das Kanalisationssystem unterhielten, das das Leben in Nexis so angenehm und gesund machte. Magie war es, die das Wasser zirkulieren ließ und den Abfall aus der Stadt flußabwärts ins Meer pumpte, und niemand hatte etwas dagegen einzuwenden, den Magusch dafür einen kleinen Betrag zu entrichten. Miathans Forderung jedoch war erpresserischer Wucher und vor allem für die großen Familien untragbar. Unter den Stadtbewohnern herrschte große Verärgerung über seinen Vorstoß, und die gegen den Erzmagusch und den Rat gerichteten Emotionen schlugen hohe Wellen.
Vannor war bereits eingetroffen und hatte allein am Tisch Platz genommen. Er schien sich in seiner Haut nicht wohl zu fühlen. Als Forral sich auf dem Sitz des Garnisonskommandanten niederließ, beugte sich das Haupt der Kaufmannsgilde zu ihm hinüber; seine leise Stimme ging im allgemeinen Lärm unter. Wie gewöhnlich kam er direkt zur Sache. »Forral, nichts für ungut, aber ich weiß, daß Miathan dich hier im Rat wegen Aurian in eine unerfreuliche Position manövriert hat. Ich habe vorher nie etwas dazu gesagt, weil du auf einem schwierigen Platz dein Bestes getan hast – aber hast du über diese Geschichte mit der Abwasserabgabe einmal nachgedacht? Diese Steuer wird die ärmeren Einwohner der Stadt zugrunde richten, und es wird deine Aufgabe sein, die Steuer einzutreiben und durchzusetzen. Was soll mit denen geschehen, die nicht zahlen können? Was ist, wenn sie sich alle weigern, zu bezahlen? So, wie die Stimmung im Moment ist, kann das sehr gut passieren. Wenn dieses Gesetz beschlossen wird, dann sitzen wir bis zum Hals in der Scheiße, wie man es auch immer betrachtet!«