Forral lag weiß und bewegungslos da, so wie ihn Aurian vor so langer Zeit in einer Schreckensvision gesehen hatte. »Forral!« schrie sie. Es war ein Schrei der Angst aus den Tiefen ihrer Seele, als sie sich ungeachtet der Gefahr für sich selbst auf ihn warf. Aber es war zu spät. Forrals Körper unter ihr war leblos, eine eiskalte Schale, sein Atem erstorben, sein großes, großmütiges, liebendes Herz stand für immer still.
Anvar war gerade noch rechtzeitig gekommen, um Forral fallen zu sehen. Von der Schwelle aus wurde er Zeuge, wie sich Aurian, die in ihrem Schmerz nicht mehr wahrnahm, was um sie herum vorging, über seinen Leichnam warf und weinend versuchte, ihn wiederzubeleben, mit den Sinnen einer Heilerin verzweifelt nach einem letzten Lebensfunken suchte, an den sie anknüpfen konnte. Das gereizte, düstere Ungeheuer stieß ein gellendes Johlen aus und senkte sich nun mit seinem schwarzen, weit aufgerissenen Schlund auf sie herab. »Nein!« schrie Miathan. »Nicht sie, du Schwachkopf!« Das Ding ignorierte ihn. Gestärkt durch die Lebenskraft seines Opfers hatte es sich Miathans Kontrolle entzogen. Mit einem unartikulierten Schrei sprang Anvar ins Zimmer, aber nur, um von der langen, schlaksigen Gestalt Finbarrs beiseite geschoben zu werden, der seinen Zauberstab hob, sich dem Monstrum zuwandte und mit laut schallender Stimme einige Wörter rief.
Das Ungeheuer zuckte erstaunt und war plötzlich von einer dunstigen, blauen Aura umgeben. Dann hörte es auf, sich zu bewegen, hing erstarrt und hilflos nur ein paar Zoll von Aurians Gesicht entfernt in der Luft, von Finbarrs Ruhezauber in die Zeitlosigkeit verbannt. Miathan wich mit einem unflätigen Fluch zurück, hob seine Hände und sprach nun selbst eine Zauberformel. Daraufhin begannen sich mehr und mehr dunkle Schatten über den Rand des Kelches zu ergießen. Finbarr machte sie einen nach dem anderen mit seinem Bannwort unschädlich und fror jedes der Gespenster ein, sobald es sich zeigte. Sein schweißnasses Gesicht war vor Anstrengung verzerrt. »Nihilim!« rief er. »Die Todesgeister des Kessels! Anvar – schaff Aurian fort von hier!«
Meiriel in ihrer Ecke bekam einen Schreikrampf.
Anvar ließ es sich nicht zweimal sagen. Er schoß hinüber zu Aurian und mußte sich unter der erstarrten Form der furchtbaren Monstrosität, die über ihr schwebte, hinwegducken. Sie klammerte sich wie von Sinnen an Forral, als Anvar sie am Arm zog. »Komm, Aurian!« schrie er. »Bitte – du kannst nichts mehr für ihn tun!« Anvars eigenes Gesicht war tränenüberströmt.
Aurian sah zu ihm auf, und plötzlich wurden ihre Augen wieder klar, als ob sie ihn jetzt erst erkannt hätte. Sie fuhr sich mit einem Ärmel über ihr tränenverschmiertes Gesicht und nickte, drehte sich dann noch einmal zu Forral um und berührte zum Abschied zart dessen Gesicht. »Gute Reise, Liebster«, flüsterte sie, »bis wir uns wiedersehen.« Dann riß sie sich mit einem Seufzer los und taumelte auf Anvars Arm gestützt zur Tür.
Finbarr war immer noch damit beschäftigt, die endlose Folge der Todesgeister des Erzmagusch niederzukämpfen. Er taumelte inzwischen vor Erschöpfung. Vannor stand an der Tür, schreckensstarr und mit todesblassem Gesicht. Anvar drückte ihm Aurian in die Arme. »Hilf ihr!« schrie er. »Schnell!« Er lief den beiden voraus die Treppe hinunter, stürzte in Aurians Zimmer und holte das Bündel mit ihrer Kampfkleidung und ihr Schwert heraus. Für mehr blieb keine Zeit. Am Fuß der Treppe stieß er wieder zu Vannor und Aurian und half der verzweifelten Magusch auf eines der Pferde. Vannor sprang auf das andere, und Anvar übergab sein Bündel dem Kaufmann, bevor er selbst hinter Aurian aufs Pferd sprang und die Zügel ergriff.
»Zu mir nach Hause!« rief Vannor und galoppierte auf die Tore zu, über die Leichen der niedergemetzelten Wachen hinweg.
Als sie durchs Tor ritten, horten sie vom Turm einen furchtbaren Schrei – Meiriels Stimme. Aurian verkrampfte sich in Anvars Arm und stöhnte. Dann zuckte sie, als hätte sie einen Schlag bekommen.
»Finbarr! Finbarr ist tot«, sagte sie mit leiser, ausdrucksloser Stimme, als wäre dieser letzte Schlag das absolute Ende und sie könne nie wieder etwas tief berühren. Als Anvar noch einmal zum Turm zurückschaute, sah er, daß die finsteren, schwarzen Gestalten der Todesgeister sich bereits aus den oberen Fenstern ergossen und sich auf die Stadt zubewegten.
Mit donnernden Hufen ging es über den Damm, nur fort von dem Schrecken, der hinter ihnen lag, und dann nach rechts die lampenerleuchtete Straße hinauf, die zwischen Bäumen bergan führte. Der wilde Ritt endete erst, als sie die mächtigen geschnitzten Tore von Vannors Anwesen erreichten. An dem verblüfften Diener vorbei, der ihnen die Tür öffnete, führte der Kaufmann sie durch einen steingefliesten Flur in seinen Arbeitsraum. Er ließ Aurians Bündel auf den Boden fallen, bettete gemeinsam mit Anvar die Magusch auf eine Couch und schenkte für jeden von ihnen einen starken Schnaps ein, bevor er sich zitternd in seinen eigenen Sessel fallen ließ. »Bei den Göttern«, sagte er. »Was sollen wir tun?« Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich damit über die Stirn. »Es ist offensichtlich«, fuhr er fort – mit der Ruhe, die sich nach einem tiefen Schock einstellt –, »daß Miathan verrückt ist. Er hat den Maguschkodex gebrochen und einen Schrecken entfesselt, wie ihn die Stadt noch nie gesehen hat. Es hat ihn immer nach Macht gelüstet – er wird sie sich jetzt nehmen, da gibt es keinen Zweifel. Und er wird uns verfolgen – vor allem Aurian. Du mußt sie von hier fortbringen, Junge. Die einzige Frage ist, wohin? Kannst du nach Norden gehen, Lady, zu deiner Mutter?«
Aurian saß steif neben Anvar auf der Couch und blickte mit weit aufgerissenen, ausdruckslosen Augen ins Leere. Ihr Gesicht war grau, ihre Finger waren weiß, so fest hielt sie sie um ihr noch volles Glas geschlossen.
»Herrin?« fragte Anvar vorsichtig. Er legte ihr den Arm um die Schulter und führte ihr die Hand mit dem Glas an die Lippen, damit sie trinken konnte. Als sie die feurige Flüssigkeit geschluckt hatte, durchlief sie ein Zittern, und die furchtbare Verkrampfung ihres Körpers ließ ein wenig nach.
»Forral«, flüsterte sie sehnsüchtig. Sie begann sich umzusehen, und Anvar konnte es kaum ertragen, ihrem verlorenen schmerzerfüllten Blick zu begegnen. Dann starrte sie wieder ins Leere und hielt Vannor mit zitternder Hand ihr leeres Glas hin, ließ ihn nachschenken und trank es in einem Zug aus.
»Anvar, was ist geschehen?« fragte sie. »Was hat der Erzmagusch mit mir gemacht? Warum warst du und – und warum war Forral dort?« Anvar erzählte ihr kurz und mit zitternder Stimme, was geschehen war. Ihre Augen weiteten sich schockartig. »Ein Kind?« stöhnte sie. »Welches Kind? Ich bin nicht … Ich kann nicht schwanger sein!« Einen Augenblick lang verdüsterte sich ihr Gesichtsausdruck; Anvar vermutete, daß sie ihren eigenen Körper mit den besonderen Sinnesgaben einer Heilerin erforschte. »Große Götter«, murmelte sie. »Die Sonnenwende! Es muß zur Sonnenwende passiert sein. Wir waren betrunken, damals … und so glücklich. Aber ich kann doch gar nicht so sorglos gewesen sein – es ist unmöglich.« Plötzlich flackerte ein furchtbarer Verdacht in ihr auf. »Meiriel!« knurrte sie. »Meiriel hat mich hintergangen! Das ist die einzige Möglichkeit. Bei allen Göttern, das wird sie mir büßen, bevor es mit mir vorbei ist.«