Sie sprang auf die Füße, wirbelte zu Vannor herum und war plötzlich grimmig entschlossen. »Geh du nach Norden, Vannor, wenn du willst«, sagte sie. »Meine Mutter muß gewarnt werden. Sie muß erfahren, daß der Erzmagusch den Kodex verraten hat und zum Abtrünnigen geworden ist. Wir werden ihre magischen Kräfte noch dringend benötigen, bevor diese Sache ausgestanden ist. Sammle alle, die uns unterstützen wollen, bevor du gehst. Ich gehe nach Süden, zu den Bergfestungen, um eine Armee aufzustellen. Ich schwöre dir, daß ich nicht eher ruhen werden, bis Miathan für seine Taten von heute nacht bezahlt hat.«
»Was?« Vannor sprang auf, kalkweiß im Gesicht. »Aurian, willst du für deine Rache den Maguschkodex brechen? Hast du die bitteren Lehren der Verheerung vergessen? Du darfst diesen Schrecken nicht noch einmal entfesseln!«
Die Magusch hielt seinen Blicken stand. »Ich habe keine Wahl«, sagte sie. »Miathan hat den Kodex bereits gebrochen. Finbarr hat gesagt, daß diese – Wesen – Nihilim waren, Todesgeister, und das kann nur bedeuten, daß er den Kessel besitzt, von dem in den alten Mythen die Rede ist, und daß er seine Kräfte zum Bösen einsetzt. Wenn wir ihn nicht aufhalten, wird er schließlich die ganze Welt in der Hand haben.«
Abrupt setzte sich Vannor wieder hin. »Wie kannst du hoffen, ihn besiegen zu können, wenn er solch eine mächtige Waffe besitzt?«
»Das weiß ich nicht«, gab Aurian zu. »Aber ich muß es versuchen, auch wenn mich der Versuch mein Leben kostet.«
Sie war nicht umzustimmen, und es blieb zu wenig Zeit, die Gefahr war zu groß, um lange herumzustreifen. Der durch und durch verängstigte Anvar wußte, daß er sie würde begleiten müssen. Wie sollte man wissen, wozu die Magusch in ihrem Kummer fähig war? Sie schien auch ihr ungeborenes Kind noch nicht mit in ihre Pläne einzubeziehen. Jemand mußte sich um sie kümmern, und das war das mindeste, was er tun konnte, um Sühne zu leisten. Und Sühne leisten mußte er.
Nachdem er ein wenig Zeit gefunden hatte, darüber nachzudenken, was geschehen war, belasteten Anvar schwere Schuldgefühle wegen Forrals Tod. Hätte er nur innegehalten und über die Konsequenzen nachgedacht, bevor er losgerannt war, um den Schwertfechter zu suchen – dann würde Forral noch leben und ebenso Finbarr. Und Miathan würde nicht den Schrecken der Todesgeister entfesselt haben. Allerdings wäre dann auch das Baby getötet worden, aber so schwer ihr die Entscheidung auch gefallen wäre, Anvar wußte, daß Aurian sich immer für ihren Liebsten entschieden hätte. Für den Moment hatte sie ihren Kummer unterdrückt, weil Handeln not tat. Aber schließlich würde sie auch herausfinden – so wie er es getan hatte –, wer in Wahrheit verantwortlich war. Er erschauderte bei dem Gedanken an das, was sie dann wohl mit ihm machen würde. Aber es würde ihn nicht unverdient treffen. Anvar schloß bekümmert die Augen. War es ein Fluch, immer diejenigen zugrunde zu richten, die er am meisten liebte? Zuerst seine Mutter, dann Sara – und jetzt Forral und Aurian. Er wünschte sich wirklich, er wäre an Stelle des Schwertkämpfers gestorben, und er war sich sicher, daß Aurian es genauso sehen würde.
Aurian und Vannor hatten ihre Pläne schnell abgesprochen. Vannor würde mit seiner persönlichen Leibwache in die Stadt reiten und dort versuchen, Parric ausfindig zu machen und Unterstützung für den Widerstand gegen den Erzmagusch zu sammeln. Anvar überlief es kalt; er bewunderte den Mut des Kaufmanns. Er schämte sich, daß er froh war, sich nicht in die geisterverseuchten Straßen begeben zu müssen. Er und Aurian würden Vannors kleines Boot nehmen und flußabwärts zum Hafen fliehen. Die Magusch war zu dem Schluß gelangt, daß sie die südlichen Bergfesten am schnellsten über See erreichen konnten, und Vannor gab ihr Gold für die Schiffspassage. Dann bat der Kaufmann Aurian um etwas, das Anvar schlagartig aus seinen Betrachtungen riß.
»Könnt ihr Sara mitnehmen? Sie wird in einem der südlichen Forts sicherer untergebracht sein als hier bei mir.« Aurian runzelte die Stirn.
»Vannor, das kann ich nicht«, sagte sie frei heraus. »Forral …« Ihre Stimme zitterte bei der Erwähnung seines Namens. »Er hat mich zwar gründlich darin unterwiesen, wie man ein solchen Abenteuer besteht – aber mein Wissen ist noch nie wirklich auf die Probe gestellt worden, und wenn wir nun Sara mitnehmen, dann bedeutet das, daß wir sowohl uns beide als auch sie in Gefahr bringen. Glaub mir, sie ist bei dir besser aufgehoben.«
»Bitte, Aurian«, bat Vannor. »Ich weiß, daß sie für die harten Bedingungen einer solchen Reise nicht geschaffen ist, aber sie wird hier in schlimmer Gefahr sein.«
Aurian seufzte. »Nun gut, Vannor. Ich schulde dir mehr als diesen Dienst – aber denk immer daran, daß es keine Möglichkeit für uns geben wird, sie zu verwöhnen.«
Vannors Gesicht hellte sich auf. »Ich danke dir, Lady«, sagte er. »Ich werde sie sofort herbringen lassen.«
Als Sara hörte, was geschehen war, wurde sie hysterisch. Sie umkreiste Vannor wie eine Furie und bezichtigte ihn aller möglichen Formen der Dummheit, weil er sich überhaupt in diese Geschichte hatte hineinziehen lassen, weil er den Zorn des Erzmagusch auf sich gezogen hatte und ihrer aller Leben ruiniere. Der Kaufmann war durch und durch beschämt ob ihres Benehmens, und Aurians Lippen kräuselten sich angewidert. Anvar hielt sich schweigend im Hintergrund; sein Herz hämmerte, und er fiel wieder einmal Saras Schönheit zum Opfer.
Obwohl sie seine Anwesenheit ignorierte, hatte er sie bei seinem Anblick erbleichen sehen, und aufs neue quälte ihn die Erinnerung an die Zurückweisung, die er bei ihrer letzten Begegnung hatte hinnehmen müssen. Hatte sie das getan, weil sie ihn haßte – oder weil sie fürchtete, Vannor könnte das beschämende Geheimnis ihrer Vergangenheit entdecken? Es war auch für den Außenstehenden ganz offensichtlich, daß es in dieser Ehe Liebe nur auf Vannors Seite gab. Wenn Sara mit ihrem Mann sprach, konnte Anvar darin nichts als Kälte und Verachtung entdecken. Ihre Mutter hatte ihm erzählt, daß Saras Vater sie Vannor als Ehefrau verkauft hatte. War sie gegen ihren Willen dazu gezwungen worden? War sie eine Gefangene in all diesem Reichtum? Das würde ihr Benehmen gegen den Kaufmann erklären, den Anvar als freundlichen und grundanständigen Mann kannte. Und wenn sie Vannor haßte, wie würde das Mädchen dann darauf reagieren, daß sie mit ihrem früheren Liebhaber reisen sollte, der ihr ein Kind gezeugt und sie mit den Konsequenzen, die sich daraus ergaben, allein gelassen hatte?
Vannor kam in seinen Erklärungen erst gar nicht dazu, Anvar zu erwähnen. Als es dem Kaufmann endlich gelang, zu Wort zu kommen, um Sara seine Pläne mitzuteilen, weigerte sie sich rundheraus zu gehen. »Warum sollte ich?« schimpfte sie und stampfte mit dem Fuß auf. »Ich ziehe doch nicht wie ein Vagabund mit der da durch die Welt.« Sie starrte Aurian an. »Nichts von alledem ist meine Schuld – der Erzmagusch kann mich nicht dafür verantwortlich machen. Und es war auch nicht meine Entscheidung, einen Schwachkopf zu heiraten – oder einen Geächteten!«
Anvar konnte Vannor ansehen, wie sehr ihn diese Beschimpfungen verletzten. Aurian ging fluchend und mit erhobener Hand einen Schritt auf Sara zu. Anvar sprang schon dazu, überzeugt, daß die Magusch sie schlagen wollte, aber Aurian legte nur ihre Hand auf Saras Stirn und sagte: »Schlaf!« Sara fiel zu Boden. »Keine Angst«, sagte Aurian, als sie den besorgten Blick des Kaufmanns auffing, der sich sogleich neben seine Frau gekniet hatte. »Es setzt sie für eine Weile außer Gefecht. Schick jemanden, der sie hinunter zum Boot trägt, Vannor. Wir werden hier schon viel zu lange aufgehalten.«
»Ist ihr denn nichts passiert?« fragte der Kaufmann.
»Nein, natürlich nicht. Es geht ihr besser, als sie es verdient«, erwiderte Aurian gereizt. »Sie schläft nur. Aber ich warne dich, Vannor – wenn sie sich das nächste Mal so benimmt, dann werde ich sie schlagen – und zwar mit dem größten Vergnügen!«