Aurian spürte, wie sich die Klauen der Angst fest um Anvar zusammenzogen – und dann, als sie eine letzte äußerste Anstrengung unternahm, richtete sich das Boot wieder auf und trieb ruhig über dem wirbelnden Mahlstrom dahin, getragen von einem Polster aus reinem Licht. Sanft schwebten sie über die Gefahr hinweg, und ebenso sanft gelangte das kleine Boot dann in das ruhige, flache Fahrwasser unterhalb des Wehrs.
Aurian schloß die Augen und brach keuchend über ihrem Stab zusammen, ließ sich von der Dunkelheit einhüllen, jetzt, da das Licht ihres Zaubers verbraucht war. Sie hatte sich auf die Lippen gebissen, und ihr Mund war voll vom metallischen Geschmack ihres eigenen Blutes. Undeutlich nahm sie wahr, daß Anvar sie in seine Arme zog. Sanft strich er ihr das durchnäßte, verfilzte Haar aus dem Gesicht und wischte ihr ein Rinnsal von Blut vom Kinn.
»Aurian? Herrin?« Seine Stimme klang ängstlich. Es kostete sie einige Mühe, ihre Augen zu öffnen. »Ist dir nichts passiert?« fragte Anvar.
»Müde.« Allein diese Wort auszusprechen war Anstrengung genug. »Bring uns zum Hafen, Anvar.« Ihre Stimme schien aus weiter Ferne zu kommen. Hatte er sie gehört? Aber Anvar nickte. Er lagerte sie, so gut er konnte, in den beengten Bug des Bootes, stützte ihren Kopf mit seinem nassen Umhang und nahm dann mit dem übriggebliebenen Ruder seine Arbeit wieder auf. Dankbar schloß Aurian die Augen.
Als sie sie wieder aufschlug, war das Flußufer von Bauten gesäumt. Sie kamen an Wohnhäusern, Lagerhäusern und Mühlen vorbei und trieben dann nach einer Biegung des Flusses unter einer großen Brücke hindurch, hinter der der Hafen von Norberth begann. Die Brücke überspannte als mächtiger Bogen aus weißem Stein den Fluß, der hier breit und träge dahinströmte. Der Widerschein der Lichter der Stadt auf dem Wasser überzog die Unterseite des Brückenbogens mit einem nie stillstehenden Netzwerk von geschecktem Silber, und der Fluß selbst schien unter dem hallenden Steinbau höhnisch zu lachen. Als sie die Brücke hinter sich hatten, passierten sie rasch die Stadt selbst und erreichten dann die Hafenbecken. Hoch erhoben sich die Masten und Riggs der Segelschiffe in den Himmel, und Aurian fragte sich, welches dieser Schiffe sie wohl nach Süden bringen würde. Anvar ruderte in einem Zickzackkurs zu einer verfallenen, aufgegebenen Werft im Süden des Hafens und bekam dort einen der schlüpfrigen Pfähle zu fassen, so daß er das Boot unter die kleine Pier ziehen konnte, deren Schatten sie verbergen würde.
Aurian richtete sich müde auf und suchte in einem der Bündel, die im Boot lagen, bis sie schließlich eine kleine, silberne Flasche und ein hastig eingepacktes Paket mit Fleisch, Brot und Käse fand, das sich schon in Auflösung befand, nachdem es am Wehr völlig durchnäßt worden war. Sie nahm einen guter Schluck von Vannors starkem Branntwein und spürte, wie dessen Hitze wohltuend durch ihren steifen, frostkalten Körper lief. Sie gab Anvar die Flasche, der sie dankbar entgegennahm.
Mit ihren nachtsichtigen Maguschaugen bemerkte sie, daß er grau und abgehärmt aussah. Seine Augen waren vor Erschöpfung mit dunklen Ringen umgeben, sein blondes Haar war dunkel und strähnig von der Gischt des Flusses. Aurian teilte die durchnäßten Speisen mit ihm. Sie aßen schweigend, beide zu müde, um zu sprechen. Der Magusch tat die Mahlzeit gut; sie konnte spüren, wie ihr die Nahrung einen Teil der Energie zurückgab, die sie bei der Rettungsaktion am Wehr verloren hatte – wenn auch nur zeitweilig, wie ihr schmerzhaft bewußt war.
Das Wehr. Ach, sie war so nahe daran gewesen – so nahe daran, allem zu entkommen. Plötzlich wurde Aurian von all ihrem Kummer, von allem, was auf ihr lastete, überwältigt; von der Gefahr und der Tatsache, daß die Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, nahezu unlösbar war.
Sie drehte sich zu Anvar um, voller Wut darüber, daß er sich eingemischt hatte, und schlug ihm ins Gesicht, so fest sie konnte. »Das ist dafür, daß du mir das Leben gerettet hast!« fuhr sie ihn an. Überraschung und verletzte Gefühle zeichneten sich auf seinem Gesicht ab, aber dann straffte sich sein Mund grimmig, und seine Hand holte aus, um den Schlag zu erwidern.
»Und das ist dafür, daß du meins gerettet hast!« gab er zurück. Das Echo des Schlages hallte wie ein Knall über das Wasser, und Aurian kippte – die Hand auf der schmerzenden Wange, die Augen geweitet – nach hinten.
Anvar konnte ihr nicht mehr in die Augen sehen und wandte sich ab; er schämte sich. »Herrin, es tut mir leid«, murmelte er. Langsam schüttelte Aurian den Kopf. Wie konnte sie ihm eine Reaktion übelnehmen, die ein so getreues Ebenbild ihrer eigenen Verzweiflung war? Zum ersten Mal nach Forrals Tod begriff sie, daß sie nicht allein war, daß andere in der gleichen Lage waren wie sie und ebenso darunter litten. Sie hielt ihm ihre Hand hin – eine Geste zwischen Gleichen, zwischen Freunden.
»Mir tut es auch leid, Anvar«, sagte sie sanft. »Ich hatte kein Recht dazu – aber ich weiß einfach nicht, wo ich die Kraft hernehmen soll, mit allem fertig zu werden.« Ihre Stimme brach, und die strenge Selbstbeherrschung, die sie die ganze Nacht über aufrechterhalten hatte, begann zu schwinden. Anvar nahm die Hand, die sie ihm angeboten hatte.
»Dann werden wir versuchen, es zusammen durchzustehen«, sagte er und nahm sie in die Arme, als sie zu schluchzen begann und sich endlich all ihrem Kummer hingab, jetzt, da sie sich entschlossen hatte, die Last des Weiterlebens auf zu sich nehmen.
Nach einer Weile machte sie sich los und wischte ihr Gesicht am Ärmel ab. »Das ist eine furchtbare Angewohnheit«, sagte Anvar mit einem schiefen Grinsen, und sie brachte als Entgegnung ein zittriges Lächeln zuwege.
»Irgend jemand hat vergessen, die Taschentücher einzupacken«, sagte sie.
»Wie unangenehm«, sagte Anvar. »Ich würde an deiner Stelle den Diener dafür schlagen.«
»Oh, er hat seine guten Seiten. Er hat wenigstens daran gedacht, die richtigen Kleider mitzunehmen.« Aurian suchte kurz und zog dann ihr Bündel unter Saras Kopf hervor. »Ich mache mich jetzt besser auf den Weg und suche nach einem Schiff. Es wird nur allzubald hell werden, und ich möchte, daß von uns nichts mehr zu sehen ist, wenn hier die ersten Leute auftauchen. Dank sei der Göttin, daß die Nächte gerade jetzt so lang sind.« Während sie sprach, zog sie ihren Fechtanzug aus dem Bündel und begann, sich der durchnäßten, zerrissenen Reste ihres langen, grünen Kleides zu entledigen.
Anvar wandte höflich die Augen ab, aber Aurian benötigte seine Hilfe, um ihre Kampfmontur anzulegen, da das Leder ebenfalls am Wehr feucht geworden war und sie ihre Finger vor Kälte kaum bewegen konnte.
»Gut«, sagte sie forsch, als sie fertig war. »Ich versuche, so schnell zurück zu sein, wie ich kann.«
»Herrin, du willst doch nicht etwa allein gehen?«
»Geht nicht anders.« Aurian blickte stirnrunzelnd auf Saras leblose Gestalt hinunter. »Du mußt hierbleiben und ein Auge auf sie haben.« Sie verzog ihr Gesicht. »Bei den Göttern, sie wird uns eine Last sein.«
»Herrin, ich …« Anvar merkte, daß er schuldbewußt errötete. Er wußte noch nicht einmal, womit er anfangen sollte, um Aurian die Sache mit Sara zu erklären – zu erklären, daß sie sich einst geliebt hatten.
Aurian sah ihn verwirrt an. »Du kennst sie, nicht wahr?« sagte sie. »Damals, als sie dich in die Garnison gebracht haben, als wir uns zum ersten Mal sahen, da hat sie gelogen, als sie sagte, sie hätte dich nie zuvor gesehen, oder?«
Anvar nickte kläglich und fragte sich, wie sie wohl reagieren würde, wenn er ihr erzählte, daß er und Vannors Frau früher einmal ein Paar gewesen waren. Glücklicherweise ersparte Aurian ihm weitere Fragen. »Noch mehr Komplikationen, wie?« sagte sie kleinmütig. »Na ja, du kannst mir ja später davon erzählen, Anvar. Ich muß jetzt wirklich los.« Sie zog sich den feuchten Umhang um die Schultern, kletterte vorsichtig in dem Strebwerk halbverrotteter Balken empor, das die alte Pier trug, und verschwand im Schatten des Lagerhauses.