Anvar lehnte sich zurück und überließ sich seinen eigenen, sorgenvollen Gedanken. Aurians plötzliche Forschheit hatte ihn nicht im mindesten täuschen können. Er wußte, wie tief sie um Forral trauerte, und es machte ihm Sorgen, wie sich das auf ihr Urteil auswirken würde. Ihr ganzer Plan – eine Armee aufzustellen, um den Erzmagusch zu besiegen – war reiner Wahnsinn. Aber er hatte selbst keinen besseren Plan zu bieten – außer dem, so weit und so schnell wie möglich zu fliehen. Nun, das taten sie ja jetzt, und vielleicht würde sie doch noch rechtzeitig zur Besinnung kommen.
Anvar fragte sich, wo Vannor wohl sein mochte. War es dem Kaufmann gelungen zu entkommen? Plötzlich begriff er auch, daß Sara frei sein würde, falls Vannor nicht mehr lebte. Schuldbewußt unterdrückte er den Gedanken. Vannor war ein guter Mann, das wußte Anvar. Wie würde der Kaufmann wohl reagieren, wenn er wüßte, daß er seine geliebte Frau deren einstigem Liebhaber anvertraut hatte? Sara, dessen war er sich sicher, gab um ihren sie liebenden Ehemann keinen roten Heller, und Anvar fragte sich, wie sie sich jetzt verhalten würde, da sie ihn zunächst einmal los war.
Er betrachtete sie, wie sie dalag und schlief. Ihr goldenes Haar fiel ihr bis auf die Schultern. Sie sah so zerbrechlich aus – so schön. Schlagartig übermannten Anvar die Erinnerungen an alte Tage, als sie beide jung gewesen waren und sich geliebt hatten, als sie miteinander glücklich gewesen waren und auf ihre Zukunft vertraut hatten.
Gab es denn gar keine Hoffnung, daß es wieder so werden könnte? Hatte er nicht auch ein Recht auf ein wenig Glück?
Die Morgendämmerung des feuchten, grauen Tages hatte bereits begonnen, als Aurian dicht im Schatten der verfallenen Lagerhäuser zurück zu der Werft kam. Es hatte ewig gedauert, ein Schiff zu finden, dessen Kapitän bereit war, sie mitzunehmen. Der Preis, den er dafür verlangt hatte, war der reinste Wucher – viel mehr als die Summe Goldes, die sie von Vannor bekommen hatte. Sie hatte ihm alles gegeben, was sie hatte, und lange auf ihn einreden müssen, um ihn zu überzeugen, daß er den Rest am Ziel der Reise erhalten würde. Auf ihrem Rückweg zu Anvar wurde die Magusch den Gedanken nicht los, in welcher Gesellschaft sie an Bord des rattenverseuchten, lecken alten Kahnes reisen würden. Sie hatte noch nie in ihrem Leben eine solche Bande von Strolchen gesehen, aber sie wußte, daß ihnen nichts anderes übrigblieb, als das Risiko einzugehen. Miathan suchte noch nicht nach ihnen, aber er würde bald damit anfangen.
Als Aurian das Boot erreichte, war sie schwach vor Müdigkeit, benommen und kaum noch fähig, sich zu bewegen. Anvar stand auf und bot ihr die Hand zum Abstieg über die glitschigen, faulen Pfähle. Sie war dankbar für den festen Halt, den er ihr bot. »Also los«, sagte sie, als sie endlich wieder im Boot saß. »Ich habe uns eine Passage nach Easthaven besorgt. Von dort aus reisen wir zu Lande weiter.«
»Und was ist mit Sara?«
»Wir haben keine Zeit, etwas mit ihr zu besprechen. Ich werde mich darum kümmern.« Aurian schnippste vor dem Gesicht des schlafenden Mädchens mit den Fingern. »Komm«, befahl sie. Saras Augen öffneten sich; ihr Gesichtsausdruck war vollkommen leer. Sie erhob sich steif, und Anvar griff schnell nach dem Pfahl, an dem sie festgemacht hatten, um das schwankende Boot zu beruhigen.
»Wir können sie nicht so mit an Bord nehmen!« protestierte er.
»Wir müssen. Zieh ihr die Kapuze ins Gesicht und nimm ihren Arm. Du mußt sie führen.« Aurians Gesichtsausdruck ließ es ihm angeraten erscheinen, auf Widerspruch zu verzichten.
Es war ein furchtbarer Kampf, das Mädchen auf die Pier zu hieven, aber danach bewegte sie sich fast natürlich. Anvar führte sie, und Aurian trug das Gepäck. Die ein oder zwei frühen Passanten, die sie trafen, schenkten ihnen kaum Beachtung, und Aurian begann etwas aufzuatmen – bis Anvar das Schiff sah, das sie mitnehmen sollte.
Er blieb wie angewurzelt stehen. Sein ganzes Gesicht war ein einziges Bild von Widerwillen. »O nein«, sagte er. »Das ist bestimmt nicht dein Ernst.«
»Anvar, was erwartest du von mir?« raunzte Aurian ihn an. Sie war den Tränen nahe. »Sieh uns doch an! Wir wirken kaum respektabel, oder? Glaubst du denn, irgendein vernünftiger Kapitän würde uns mitnehmen? Ich habe mein Bestes getan – und es ist auf jeden Fall besser, als hier darauf zu warten, daß Miathan uns findet!«
Es war klar, daß Anvar darauf nichts mehr würde entgegnen können. Kopfschüttelnd führte er Sara die schmale, schlüpfrige Planke hinauf, die an Bord des maroden kleinen Segelschiffes führte.
Kapitän Jurdag hatte lange Koteletten und trug sein fettiges, rotgelbes Haar zu einem Zopf zusammengebunden. In seinen Ohren glänzten Goldringe, und der wilde Ausdruck seiner eng zusammenstehenden Augen erinnerte Aurian an ein Wiesel. Er verbeugte sich vor ihr in heimtückisch vorgetäuschter Höflichkeit, und der Rest der auf Deck herumlungernden Mannschaft – ein schäbiger, von Messerstichen verunstalteter, pockennarbiger Haufen – kicherte. Als sie Aurians unbewegten, stählernen Blick bemerkten, trat plötzlich gespannte Stille ein. »Zeig uns unsere Kabine, Kapitän, und mache alles bereit, um die Segel zu setzen!« sagte sie kalt.
»Sehr wohl, Lady.« Der Kapitän machte aus dem Wort eine Beleidigung, und Aurian, die sah, wie sich Anvars Gesicht verärgert rötete, nahm ihn fest beim Arm und schüttelte den Kopf.
Sie wurden in eine winzige, schmutzstarrende Kabine im Heck des Schiffes geführt, die der Kapitän offensichtlich für sie frei gemacht hatte. Aurian las einen Haufen stinkender, ungewaschener Kleider vom Boden auf und gab sie ihm. »Deine, nehme ich an«, sagte sie. »Das ist im Moment alles.«
Mit finsterem Gesichtsausdruck ließ er sie allein. Aurian verriegelte mit einem Seufzer der Erleichterung die Tür hinter ihm. »Große Götter!« sagte sie. »Es tut mir leid, Anvar.«
Anvar kämpfte mit dem Verschluß des winzigen, salzverkrusteten Glasfensters in der Heckwand des Schiffes. Es war die einzige Möglichkeit, den Raum zu lüften. »Wie lange brauchen wir bis Easthaven?« fragt er mit schwacher Stimme.
»Mit gutem Wind ungefähr vier Tage«, sagte Aurian düster. »Wenn uns in der Zwischenzeit niemand die Kehlen durchschneidet.«
Die Magusch führte Sara zu der einzigen Koje und legte sie hinein. »Ruh dich aus«, sagte sie sanft, und Saras Augen schlössen sich wieder.
»Da«, sagte Aurian müde. »Sie schläft jetzt wieder einen natürlichen Schlaf und wird aufwachen, wenn sie ausgeschlafen hat. Die Götter mögen geben, daß es nicht allzubald ist.« Sie zog Coronach aus der Scheide, setzte sich auf den Boden, lehnte sich gegen die Koje und schlief augenblicklich ein, das Schwert in der Hand.
Saras Gejammer riß Aurian rüde aus dem Schlaf. »Ich will nicht hierbleiben, ich will nicht! Es ist schmutzig, und es stinkt, und es ist mit Wanzen verseucht! Ich will nach Hause. Das ist deine Schuld, Anvar. Wenn du nicht …«
Die Magusch sprang auf die Füße und baute sich vor dem wütenden Mädchen auf, das mit fest um die Knöchel gezogenem Rock auf der Koje saß. »Sei still!« befahl sie scharf. Sara verstummt mitten in ihrer Tirade und starrte zu ihr hinauf. Aurian bemerkte die schwankende Bewegung des Schiffes unter ihren Füßen und beugte sich, ohne Sara weiter zu beachten, an ihr vorbei, um aus dem winzigen Heckfenster zu schauen. »Da hinten, da liegt das Land«, sagte wie ruhig und deutete aus dem Fenster. »Ich schlage vor, du schwimmst sofort los, bevor wir uns noch weiter davon entfernt haben. Ich glaube nicht, daß du hier durchs Fenster paßt, aber ich bin sicher, daß wir es arrangieren können, dich über Bord werfen zu lassen.«
Sara verzog vor Wut das Gesicht. »Ich hasse dich!« stieß sie hervor.
»Und wenn schon«, sagte Aurian gleichmütig. »Das interessiert mich nicht. Aber mach dir klar, daß du kein Zuhause mehr hast. Dieses stinkende, lausige Loch ist alles, was du hast, und genau hier wirst du bleiben, bis wir Easthaven erreicht haben.«