»Was hast du gesehen?« drängte Maya. »Lady, bitte …«
Eilin seufzte lang und tief. »Grauenhafte Erscheinungen«, sagte sie. »Kreaturen, so schrecklich, daß es sich jeder Vorstellung entzieht. Der Erzmagusch hat leichtfertig mit einem uralten magischen Werkzeug hantiert. Aus dem Abgrund von Legenden und Geschichte hat er die Todesgeister des Kessels entfesselt.«
Maya verstand nichts von diesen Dingen, aber sie sah das Entsetzen auf D’arvans Gesicht und die Blicke, die er und Eilin austauschten. Sie wußten offensichtlich um das Ausmaß der furchtbaren Bedrohung.
»Das war aber noch nicht alles«, fuhr die Lady fort, und ihre Augen wurden dunkel vor Kummer. »Maya, es tut mir leid, daß ich dir das mitteilen muß. Der Erzmagusch hat eine dieser entsetzlichen Kreaturen auf Forral losgelassen. Ich sah ihn fallen, und ich sah ihn sterben.«
»Nein«, flüsterte Maya. Die Welt schien stillzustehen. »O Lady, nein.« Sie hatte geglaubt, als Kriegerin damit zurechtzukommen, Kameraden in der Schlacht zu verlieren, aber jetzt spürte sie, wie sich ihr die Kehle vor erstickten Tränen zuschnürte. Nicht Forral! Sie hatte nie einen besseren Mann gekannt. Er war nicht nur ihr Kommandant gewesen, sondern in den letzten Monaten auch ein enger Freund geworden, so wie Aurian. Arme Aurian! Maya rang nach Luft. »Was ist mit Aurian?« stöhnte sie.
»Sie lebt. Finbarr kam noch rechtzeitig, um sie zu retten. Irgendwie hat er einen Weg gefunden, diese Monstrositäten unschädlich zu machen, und zwei Männer – sterbliche Männer – haben Aurian dann fortgebracht.« Eilins Stimme klang bemüht. »Ich habe keine Ahnung, was danach mit ihr geschehen ist. Ich nehme an, daß sie geflohen ist. Sie lebt, dessen bin ich mir sicher, aber ich kann sie nicht finden. Ich habe meine Verbindung zu ihr verloren, als der arme Finbarr starb. Die Todesgeister waren zu zahlreich für ihn. Am Ende fiel er, und D’arvan muß seinen Tod gespürt haben, so wie alle anderen Magusch auch.«
»Ja«, flüsterte D’arvan. »Ich habe gespürt, wie er dahinging. Große Götter, Lady, was sollen wir nur tun? Wie konnte Miathan einer solchen Tat fähig sein?«
»Miathan war immer zu weit mehr fähig, als die meisten ihm zugetraut haben.« Eilins Augen wurden hart. »Ich habe nie einen Beweis dafür besessen, daß er bei Geraints Tod die Hand im Spiel hatte, aber ich hatte meine Vermutungen. Das war einer der Gründe, warum Ich hierher floh, als Aurian noch ein Säugling war. Aber mit den Jahren habe ich mir selbst eingeredet, daß es eine dumme Idee war, aus Kummer geboren, und deshalb habe ich meiner Tochter gestattet, an die Akademie zu gehen, als sie älter wurde. So eine Dummheit! Ich hätte meinen Instinkten vertrauen sollen. Aber ich wünschte, ich wüßte, warum der Erzmagusch sich so plötzlich zu dieser neuerlichen Untat entschlossen hat. D’arvan, du warst an der Akademie. Hast du irgendeine Erklärung dafür?«
»Eigentlich nicht, Lady, obwohl Miathan sich in letzter Zeit merkwürdig verhalten hat. Was er mir angetan hat – er und mein Bruder …« D’arvan erzählte ihr seine Geschichte, und Eilins Miene verfinsterte sich noch mehr.
»Lächerlich!« sagte sie. »Natürlich hast du magische Kräfte, das müßte er doch wissen.« Dann hielt sie inne. »Ach, oder doch nicht?« murmelte sie. »D’arvan, hat dir deine Mutter jemals von deinem Vater erzählt?«
Der junge Magusch blinzelte sie fragend an. »Was soll sie mir erzählt haben, Lady? Meine Eltern sind beide gestorben, als ich noch sehr jung war – ungefähr zu der Zeit, als Miathan Erzmagusch wurde –, aber ich kann mich an meinen Vater noch ganz gut erinnern. Bavordran war ein Wassermagusch; schlau, ja, aber in keiner Hinsicht etwas Besonderes. Was hätte sie mir von ihm erzählen sollen?«
Eilin schien sich für einen Augenblick in ihren Gedanken zu verlieren, aber dann setzte sie sich kerzengerade auf, und ihre Züge zeigten plötzlich Entschlossenheit. »Vielleicht bin ich die einzige, die es weiß«, murmelte sie zu sich selbst. »Vielleicht hat Adrina beschlossen, sich nur mir anzuvertrauen.« Sie sah D’arvan direkt an. »Mach dich auf einen Schock gefaßt, junger Magusch«, sagte sie. »Davorshan ist nicht dein Zwillingsbruder, er ist nur dein Halbbruder. Sein Vater war Bavordran, aber deiner … Nun, das ist eine ganz andere Geschichte.«
D’arvan fiel die Tasse aus der Hand; sie zersplitterte auf dem Boden, ohne daß er es überhaupt merkte. »Was meinst du damit?« stöhnte er. »Das kann doch nicht wahr sein! Wie ist das möglich?«
»Oh, wir Maguschfrauen können diese Dinge regeln, wenn es sein muß«, sagte Eilin. »Nachdem sie dich empfangen hatte, hat Adrina schnell dafür gesorgt, daß Bavordran auch einen eigenen Sohn bekam, um seine Verdächtigungen zu zerstreuen. Ihr seid nur wenige Tage nacheinander gezeugt worden, und es war für sie nicht schwierig, dafür zu sorgen, daß ihr am gleichen Tag geboren wurdet – Adrinas Begabung für das Heilen war genauso einzigartig wie ihre Fähigkeiten in der Erdmagie.« Sie zuckte die Achseln. »Es war ziemlich gewagt von ihr. Von Anfang an hat man sich gewundert, warum ihr beiden euch so gar nicht ähnlich saht.«
»Aber …« D’arvan würgte, als blieben ihm die Worte im Halse stecken. »Dann – wer ist dann mein Vater?«
Eilin lächelte. »Hellorin, der Fürst der Wälder.«
»Lady, das finde ich gar nicht spaßig!« Maya hatte D’arvan noch nie so verärgert gesehen. »Wie kannst du es wagen, dir solche Scherze mit mir zu erlauben! Der Fürst der Phaerie, wahrhaftig! Was für ein Unfug! Die gibt es doch nur in Mythen und Kindermärchen!«
Eilin blickte ihn streng an. »Junge, dachtest du, ich würde mit dergleichen scherzen? Du liegst völlig falsch, wie fast alle anderen auch. Natürlich existieren die Phaerie, und es gibt sie schon viel länger als die Sterblichen oder die Magusch. Sie haben ihre eigenen Kräfte, andere als wir, und wenn sie sie dazu verwenden, sich von uns fernzuhalten, dann kann ich ihnen das nicht übelnehmen. Deine Mutter hat mir niemals erzählt, wie sie Hellorin kennengelernt und sich in ihn verliebt hat, aber es war an der Akademie kein Geheimnis, daß sie und Bavordran kaum etwas füreinander empfanden. Sie hat nur eingewilligt, seine Lebensgefährtin zu werden, weil ihr Vater darauf bestand – Zandar, der vor Miathan Erzmagusch war. Er war besorgt, daß die Magusch aussterben könnten, und Bavordran war damals der einzige Partner, der noch frei war.« Eilin seufzte. »Ja, sie hat sich schließlich mit ihm abgefunden, weil sie ihren Vater liebte und respektierte, aber es hat ihr kein Glück gebracht. Bavordran war der langweiligste und egozentrischste Magusch, den ich jemals kennengelernt habe, und er hat ihr das Leben auf jede Weise schwergemacht. Als Adrinas Freundin war ich froh darüber, daß sie doch noch Liebe erfahren hat, wenn auch nur kurz und mit einem Phaeriefürsten. Und du warst die Frucht dieser Liebe, D’arvan. Dein Bruder war ein Kind der Pflicht, aber du warst ein Kind der Liebe.«
D’arvan schauderte. »Aber, Lady«, rief er verzweifelt, »was bin ich denn nun eigentlich?«
»Einzigartig!« erwiderte Eilin munter. »Meiner Meinung nach, D’arvan, bist du dem Rest der Magusch keineswegs unterlegen. Aurian glaubt, daß du vielleicht für die Erdmagie begabt bist, und die Tatsache, daß du in der Lage bist, mit meinen Wölfen zu sprechen, scheint das zu bestätigen. Wir werden bald wissen, wie weit du dich in diese Richtung entwickeln kannst. Und was die Fähigkeiten anbelangt, die du möglicherweise von deinem Vater geerbt hast – nun, ich weiß kaum, wo man da anfangen soll. Die magischen Kräfte der Phaerie gehen weit über das hinaus, was wir Magusch je kennengelernt haben. Wollen wir uns zunächst auf das konzentrieren, was ich dir beibringen kann; danach, so schlage ich dir vor, gehst du dann und fragst Hellorin.«