»Was?« D’arvan schnappte nach Luft.
»Ich wüßte nicht, warum du das nicht solltest«, erwiderte Eilin. »Ich weiß, daß die Phaerie uns hier in diesem Tal sehr nahe sind. Sie heißen meine Arbeit hier gut – daß ich die Bäume wieder hierher zurückbringe und alles, was dazugehört … Und wenn sein eigener Sohn nach ihm ruft, dann antwortet Hellorin bestimmt. Aber …« Sie hob warnend die Hand. »Du darfst dich nicht kopfüber in solch ein Abenteuer stürzen, D’arvan. Die Phaerie gelten als ziemlich gerissen, und ich will dich gerade jetzt nicht an sie verlieren. Wir müssen Miathan entgegentreten, und da Aurian verschollen ist und Finbarr tot, bleiben nur noch wir beide übrig, du und ich. Den anderen würde ich nicht so weit trauen, wie ich spucken kann.«
»Aber, Lady, was können wir denn schon gegen den Erzmagusch ausrichten?« sagte D’arvan.
»Im Moment habe ich auch keine Idee. Ich denke, wir warten am besten und schauen, was passiert. Jedenfalls bin ich müde, und ihr seid müde, und du hast heute nacht so oft einen Schock erlitten, daß du kaum noch in der Lage sein dürftest, einen klaren Gedanken zu fassen. Und die arme Maya sieht aus, als würde sie jede Sekunde einschlafen.« Eilin lächelte der Kriegerin freundlich zu. »Ich schlage vor, wir gehen jetzt alle zu Bett und schmieden morgen früh unsere Pläne.«
Dagegen hatte keiner etwas einzuwenden. Zu viele schockierende Nachrichten, das war es wohl, dachte Maya, als Eilin ihr den kleinen Raum neben der Küche zeigte, in dem früher einmal Forral gewohnt hatte. D’arvan wurde Aurians altes Zimmer zugewiesen. Die schmerzhafte Erinnerung an ihre beiden verlorenen Freunde rief Maya ins Gedächtnis zurück, daß es noch etwas gab, das sie der Lady bisher nicht anvertraut hatte. »Lady Eilin«, sagte sie plötzlich, nicht mehr fähig, sich zu überlegen, wie sie es ihr schonend beibringen könnte. »Wußtest du, daß Aurian und Forral ein Paar waren?«
»Ein Paar?« Einen furchtbaren Moment lang leuchteten Eilins Augen in Maya hinein, und dann verbarg die Magusch ihr Gesicht in den Händen. »Große Götter«, flüsterte sie. »Warum habe ich das nicht kommen sehen? Da war immer diese tiefe Zuneigung zwischen ihnen – aber wie konnten sie nur so dumm sein?« Sie wandte sich zu Maya um, die Augen von Schmerz verdüstert. »Nun, sie können nicht dafür verantwortlich gemacht werden, daß sich der Erzmagusch dem Bösen hingegeben hat, aber jetzt wissen wir, was ihn zu seinen Taten trieb. Miathan war besessen von dem Gedanken an die Reinheit unserer Rasse, und er hat ihnen diese Verbindung sicherlich übelgenommen.« Sie schüttelte den Kopf. »Mein armes Kind«, murmelte sie. »Mein armes, armes Kind.« Eilin stieg die Stufen ihres Turmes hinauf, und Maya konnte von unten ihr leises Weinen hören.
Mitten in der Nacht, in der dunkelsten und schlimmsten Stunde, wenn es den Anschein hat, daß es niemals wieder Morgen wird, ging Maya von ihrem Zimmer in die Küche, um sich an der Glut des Herdes zu wärmen. Trotz ihrer Erschöpfung hatte sie es nicht geschafft, einzuschlafen. Ihre Gedanken waren erfüllt von Kummer um Forral, der ihr so nahe schien in dem Zimmer, das einst das seine gewesen war, und von Furcht um Aurian, die jetzt ein Flüchtling war. Ihr Götter, wie groß mußte ihr Schmerz sein! Maya sorgte sich außerdem um ihre Stadt, die jetzt von einem dem Bösen verfallenen Wahnsinnigen beherrscht wurde, und um ihre Truppen, die die Folgen der über sie hereingebrochenen Katastrophe würden tragen müssen. Zwischen Trauer und Sorge war sie zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. Ihre verzweifelten Anstrengungen machten alles nur noch schlimmer. Was ist los mit mir? dachte sie verzweifelt. Ich bin ein verdammter Soldat. Ich bin dazu ausgebildet, mit Gefahrensituationen zurechtzukommen! Es muß irgend etwas geben, das ich tun kann! Aber was immer es war, es entzog sich ihr. Niemals zuvor war sie sich so allein vorgekommen – so vollkommen erbärmlich hilflos.
Das Geräusch einer Tür, die geöffnet wurde, ließ sie nach ihrem Schwert greifen, aber der Eindringling war nur D’arvan, der aus seinem Zimmer kam. Er wirkte ausgemergelt und zerquält. »Du auch?« sagte Maya kläglich. Sie war dankbar für die Gesellschaft.
D’arvan starrte sie an. »Wie soll ich wohl schlafen können nach alledem, was ich heute abend erfahren habe?« fragte er.
»Ja, wie wohl? Ich kann ja auch nicht schlafen nach dem, was ich erfahren habe, und bei dir war es ja noch viel schlimmer.« Das Selbstmitleid, das in der Stimme des Magusch mitgeschwungen hatte, war ihr eine heilsame Erinnerung. Sie war nahe daran gewesen, im gleichen Sumpf zu versinken. »Möchtest du etwas Tee?« fragte sie ihn.
»Nein! Ich will, daß das alles nicht wahr ist! Ich will aufwachen und in meinem Bett in der Akademie liegen, will, daß alles so ist wie immer – und daß keine von diesen verfluchten Geschichten sich jemals ereignet hat!« Er ließ sich neben Mayas Stuhl auf den Boden sinken und stützte seinen Kopf auf die Hände. Obwohl er versuchte, es vor ihr zu verbergen, konnte sie spüren, daß er von Schluchzen geschüttelt wurde. Maya strich ihm über sein feines, helles Haar. »Ich auch, mein Lieber«, murmelte sie traurig, »ich auch.«
D’arvan sah kurz zu ihr auf und verbarg sein Gesicht in den Händen. »Bei den Göttern, wie mußt du mich verachten!« schluchzte er.
Maya war überrascht. »Wofür, um alles in der Welt?« sagte sie.
»Weil ich zu nichts zu gebrauchen bin. Ich bin ein nutzloser Feigling – ich kann nur wie ein Mädchen weinen und mich selbst bejammern. Aber du bist eine Kriegerin – du bist mutig – ich weiß, wie mutig du bist. Du würdest dich niemals so gehen lassen wie ich.«
Maya kicherte. »Wenn du wüßtest. Vor nicht einmal einer Stunde lag ich nebenan und habe geheult wie ein Schloßhund!«
D’arvans Augen weiteten sich. »Wirklich?«
»Natürlich, du Dummkopf. Wir haben furchtbare Dinge erfahren – Verrat über Verrat, ganze Tragödien –, und du mußtest darüber hinaus noch mit einigen besonders schockierenden Neuigkeiten fertig werden. Und jetzt können wir unseren Gefühlen ruhig freien Lauf lassen – hier, wo wir im Moment sicher sind: Es kann nie ein Fehler sein, Trost zu benötigen – oder sich trösten zu lassen, D’arvan. Und wir beide haben es gerade jetzt besonders nötig.« Während sie sprach, ließ sich Maya neben den jungen Magusch auf den Boden sinken und legte ihre Arme um ihn. Er wandte sein Gesicht ab.
»Wie kannst du es ertragen, mich zu berühren?« murmelte er. »Du weißt ja gar nicht, was ich bin.«
»Quatsch! Ich weiß genau, was du bist – das weiß ich schon seit Monaten. Du bist schüchtern und gutherzig, du liebst die Musik und die Blumen, und du hast die erstaunlichste Begabung fürs Bogenschießen, die mir jemals untergekommen ist. Ich kann es immer noch nicht glauben, wie du damals bei deinem ersten Besuch in der Garnison nur mal probeweise mit meinem Bogen geschossen und mir dann erzählt hast, du hättest nie zuvor so ein Ding in der Hand gehalten. Das ist also schon einmal eine Sache, für die du gut bist. Dann kannst du mit den Wölfen sprechen, und Lady Eilin glaubt, daß du die Erdmagie beherrschen wirst – und wer weiß schon, welche Talente du vielleicht von deinem Vater geerbt hast? Ich weiß, was du bist, D’arvan. Du bist auf jeden Fall etwas ganz Besonderes.«
Es fing damit an, daß sie ihn tröstete. Während sie sprach, spürte Maya, wie D’arvan sich entspannte, und langsam legten sich seine Arme um sie. Sie war eigentlich überrascht, wie gut ihr das tat, und mußte dann feststellen, daß ihre Gedanken plötzlich darum kreisten, wie anziehend sie ihn in letzter Zeit doch gefunden hatte. Halt! warnte sie ihr gesunder Menschenverstand. Es ist eine Dummheit. Du weißt, wie es Aurian und Forral ergangen ist.
Aber Maya kümmerte sich nicht darum. Sie machte sich keine Illusionen darüber, in welch jämmerlicher Lage sie sich befanden, und plötzlich kam es ihr so vor, als sei dies vielleicht die letzte Gelegenheit für sie beide.