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Aurian wußte etwas darüber; sie hatte es von Forral erfahren, der in seinen jüngeren Jahren in geheimer Mission im Süden gewesen war, um Informationen zu sammeln. (Solch ein Auftrag hatte ihn auch von der Heimat ferngehalten, als Geraint starb.) Die Garnison versuchte, sich ständig über die südlichen Länder auf dem laufenden zu halten, denn die kriegerischen südlichen Rassen stellten eine permanente Bedrohung dar. Dankbar für die Ablenkung, war die Magusch nur allzugern bereit, Anvar zu erzählen, was sie wußte.

Das öde Bergland der Südküste reichte bis zum Ozean, der den nördlichen Kontinent von den ungeheuren Weiten der südlichen Königreiche trennte. Es gab kaum Verbindungen zwischen den beiden Kontinenten, aber die Spione, wenn sie überhaupt zurückkehrten, berichteten übereinstimmend von der Kampffreudigkeit und überlegenen Zahl der kriegserprobten Bewohner der größeren Landmasse. Glücklicherweise fürchteten die Südländer die magischen Kräfte der Magusch, und das hatte bisher stets ausgereicht, um sie auf Abstand zu halten.

Es war bekannt, daß es im Süden wenigstens drei Königreiche gab; aber jenseits davon, wo die Wüsten in einen undurchdringlichen Urwald übergingen, lag alles in geheimnisvollem Dunkel. Ein hoher Gebirgszug an der Nordküste des Südkontinents wurde angeblich von den legendären Geflügelten bewohnt, die ihre auf hohen Gipfeln gelegenen Gebirgsnester mit wilder Entschlossenheit verteidigten.

Zwischen den Bergen und dem Meer, im Hügelland mit seinen grünen, föhrenbestandenen Tälern, lag das Königreich der Xandim. Ihr zwischen den Bergen und dem Meer eingeschlossener Lebensraum war knapp bemessen, und es hieß, daß ihre begehrlichen Blicke den nördlichen Ländern mit ihren weiten Weidegründen galten, die sie für die sagenhaften Pferde benötigten, die sie züchteten.

Südlich des Gebirges schloß sich eine Wüste an, jenseits derer das Land der Khazalim lag: einer gewalttätigen Kriegerrasse, die von einem grausamen, tyrannischen König regiert wurde. Angesichts dieser Nachbarschaft jenseits des Meeres war es kein Wunder, daß der Regierende Rat von Nexis stets dafür gesorgt hatte, daß die wüsten Berge ihrer Südküste gut befestigt waren.

»Ich frage mich, ob die Südländer wirklich so furchtbar gefährlich sind?« grübelte Anvar.

»Es heißt, daß sie für meinesgleichen nicht viel übrig haben«, sagte Aurian. »Es ist wohl das beste, wenn ich nicht versuche, es herauszufinden. Aber ich weiß, worauf du hinaus willst. Ich würde auch gern fremde Länder kennenlernen – und versuchen, die Vergangenheit hinter mir zu lassen. Aber für mich ist das unmöglich; du wirst es dagegen vielleicht eines Tages schaffen.«

»Ich?« Anvars Blick wanderte unwillkürlich zu dem Zeichen der Leibeigenschaft auf seiner Hand. »Aber ich bin nur ein Diener. Ich kann nicht erwarten …«

»Unfug!« fuhr Aurian auf. »Nur, weil du ein Diener bist? Warum solltest du etwas Schlechteres sein nur wegen der Arbeit, die du tust? Du bist doch etwas viel Besseres als einige der Magusch. Wenn ich Erzmagusch wäre, ich würde … Ach!« Aurian wurde ganz krank vor Bestürzung, als sie begriff, was sie da gesagt hatte. »O Anvar, ich hatte die Möglichkeit dazu, nicht wahr? Ich hätte ja die Dinge zum Besseren wenden können …«

»Hast du nie daran gedacht?« fragte Anvar überrascht.

»Es ist mir nie in den Sinn gekommen. Diese Art von Macht hat mir nie etwas bedeutet. Ich war dumm, daß ich nie daran gedacht habe, was ich alles hätte zum Guten wenden können. Ich habe alles fortgeworfen, als Forral mein Geliebter wurde. Bei den Göttern, ich war es, die dieses Unglück über uns gebracht hat. Sogar Forral hat mich gewarnt …« Aurian vergrub ihr Gesicht in den zitternden Händen.

Entsetzt über ihre bitteren Selbstbeschuldigungen und besorgt, daß sie in dieser in sich gekehrten Stimmung ihren Schild schwächen und ihrer aller Entdeckung ermöglichen könnte, streckte Anvar seine Hand nach ihr aus und zog ihr die Hände vom Gesicht. »Herrin«, sagte er bestimmt, »mach dir keine Vorwürfe. Der Erzmagusch ist böse – die Sterblichen von Nexis haben ihn schon immer gehaßt und gefürchtet. Er hätte so oder so die Macht an sich gerissen, was immer du getan hättest, und das Ergebnis wäre wahrscheinlich das gleiche gewesen. Du hättest also ohnehin gegen ihn kämpfen müssen – du, der Garnisonskommandant Forral, Vannor und Finbarr. Und es hätte Tote gegeben. Danke den Göttern, daß du noch lebst und jetzt den Kampf gegen ihn aufnehmen kannst. Du darfst dich nicht aufgeben, Herrin – wir brauchen dich. Wir brauchen dich alle.«

Einen Moment lang dämmerte Hoffnung auf Aurians Zügen, aber dann seufzte sie. »Freundliche Worte, Anvar, aber wenn ich und Forral nicht …«

Anvar packte sie an den Schultern. »Sag das nicht, Herrin. Sag das niemals! Was zwischen dir und dem Kommandanten geschehen ist, war unvermeidlich. Ein Blinder konnte sehen, wie sehr ihr euch liebt, und wenn dem Erzmagusch wirklich an dir gelegen gewesen wäre, hätte er sich für dich gefreut. Sag mir doch einmal ehrlich, ob Forral oder du es anders machen würdet, wenn ihr noch einmal die Gelegenheit hättet?«

»Nein«, gab Aurian nach langem Bedenken zu. »Du hast recht, Anvar. Wir hatten letzten Endes das, was wir wollten, aber …«

»Dann hör jetzt auf, dich selbst zu bemitleiden, und bring den verdammten Schild wieder hoch!« fauchte Anvar. Die Magusch zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen, und in ihren Augen blitzte Ärger auf. Dann brach sie plötzlich in Lachen aus – in leises Kichern –, und gleichzeitig fiel die Spannung von ihr ab, die ihre Gesichtszüge und ihre Schultern verkrampft hatte.

»Ach, Anvar, du bist wirklich der Richtige für mich«, sagte sie. »Wenn mir irgend jemand helfen kann, diese Sache durchzustehen, dann du. Ich bin froh, daß du hier bist.«

Irgendwie brachten sie die Nacht hinter sich; jeder hielt den anderen wach. Sie vertrieben sich die Zeit mit allerlei Kinderreimen und Rätseln; dabei leistete ihnen Aurians Dolch gute Dienste, mit dem sie tüchtig auf den Bodenplanken ihrer Kabine herumschnitzten. Als es zu schwierig wurde, sich darauf zu konzentrieren, erzählten sie sich statt dessen Witze und sangen (leise, um Sara nicht aufzuwecken); so lange, bis ihr Schatz an alten Liedern und Balladen erschöpft war. Aber immer dachten sie dabei an Miathans ruhelosen Willen, der unermüdlich auf der Suche nach ihnen die Meere durchkämmte.

Als endlich das erste Dämmerlicht des Morgens durch das winzige Heckfenster schimmerte, fühlten sich Aurians Augen an, als wären sie voller Sand, und ihre Stimme war kratzig und heiser. Sie hörte auf zu singen, und auch Anvar verstummte. Er rieb sich die Augen, streckte sich und gähnte gewaltig. »Den Göttern sei Dank, daß es hell wird«, sagte er. »Ich weiß, daß wir noch eine gute Zeitspanne vor uns haben, aber es kommt mir so vor, als hätten wir zumindest eine Hürde überwunden. Weißt du, trotz allem habe ich die letzte Nacht genossen.« Er wirkte scheu und zögernd, als sei er sich nicht sicher, ob er das Recht hatte, so etwas auszusprechen.

Aurian lächelte. »Ich genauso. Du bist ein guter Gefährte, Anvar.«

»Du auch, Herrin«, sagte Anvar. »Ich wünschte, ich hätte das eher erkannt, statt mich damit aufzuhalten, meine Stellung als Diener zu bejammern.«

»Ihr beiden seid ja schon früh auf!«

Aurian fuhr erschrocken herum; Sara blickte von ihrer Koje aus finster auf die beiden herab. »Wir waren die ganze Nacht auf«, fauchte Aurian. Saras Ton fuchste sie. »Da du schon einmal wach bist, kannst du Anvar jetzt die Koje überlassen«, fügte sie hinzu. »Er braucht Schlaf. Ich werde eine Weile auf Deck umherlaufen – das wird mich ein wenig munterer machen.«

»Das ist nicht gerecht!« protestierte Anvar. »Ich habe letzte Nacht geschlafen …«