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»Anvar, wir haben wenigstens noch zwei Nächte vor uns«, sagte Aurian sanft. Seine Rücksicht tat ihr gut. »Wie kann ich darauf zählen, daß du mich wach hältst, wenn du selbst vor Erschöpfung nicht mehr die Augen offenhalten kannst. Wenn du dich jetzt etwas ausruhst, dann schaffen wir es vielleicht.« Sie durchsuchte einen Packen, den Vannor ihnen gegeben hatte, und zog schließlich ein kleines Päckchen hervor. »Aber könntest du noch, bevor du das tust, den furchtbaren Koch bitten, mir etwas Taillin zuzubereiten? Das wird helfen, mich wach zu halten.« Aber als sie es ihm geben wollte, hielt sie inne. »Wirst du wohl auf mich achtgeben?« sagte sie kleinmütig. »Nach alledem, was ich über gute Kameradschaft gesagt habe, lasse ich dich immer noch für mich springen. Ich werde selbst gehen, Anvar. Schlaf du ein wenig.«

»Nein.« Anvar nahm ihr das Päckchen aus der Hand. »Ich werde es besorgen. Wenn du nur wach bleibst!«

Sara blickte ihm säuerlich nach, als er hinausging. »Immer der untertänige Diener«, höhnte sie. »Das ist alles, wofür er taugt.«

»Was meinst du damit?« Aurian war in Rage.

Sara zuckte die Achseln. »Frag Anvar«, war alles, was sie antwortete.

Aurian fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. Das hat mir gerade noch gefehlt, dachte sie. »Sara, mach keine Schwierigkeiten«, warnte sie das Mädchen. »Wenn du Anvar nicht anständig behandeln kannst, dann laß ihn ganz in Ruhe.« Mit diesen Worten verließ sie die Kabine; sie fühlte sich nicht in der Lage, auch nur eine Minute länger in Saras Gesellschaft zu ertragen.

Die Magusch ging zum Bug des Schiffes, setzte sich, trank ihr Taillin und sah zu, wie der rötlichgoldene Glanz des Sonnenaufgangs das Meer überflutete. Es war jetzt schon eine ganze Zeit her, daß sie zum letzten Mal Miathans Ausstrahlung gespürt hatte, und sie fragte sich, ob er wohl schlief oder vielleicht damit beschäftigt war, die Ordnung in einer Stadt wiederherzustellen, die vor Angst halb wahnsinnig sein mußte, nachdem seine Kreaturen sie überfallen hatten. Sie fragte sich, was in Nexis wohl vor sich ging, verbannte den Gedanken dann aber entschlossen aus ihrem Sinn. Sie durfte sich nicht darauf verlassen, daß der Erzmagusch die Suche aufgegeben hatte, und sie wagte nicht, in ihrer Aufmerksamkeit nachzulassen. Um wach zu bleiben, stand sie auf und begann auf dem beengten Deck des stampfenden Schiffes auf und ab zu gehen, ohne sich um die neugierigen Blicke der wenigen Besatzungsmitglieder zu kümmern, die zu dieser frühen Stunde bereits auf waren.

Wenig später hatte der Wind so weit aufgefrischt, daß es unmöglich wurde, auf dem Deck des stampfenden und schlingernden Schiffes umherzuwandern, und Aurian stieg hinab in die enge, schmutzstarrende Kombüse, um den Schiffskoch zur Herausgabe einer weiteren ungenießbaren Mahlzeit zu überreden. Der Geruch, der ihr entgegenschlug, als sie den steilen Niedergang hinabstieg, war ekelerregend vertraut. Nicht schon wieder Eintopf! Aurian spürte, wie sich ihr Magen zusammenkrampfte. Sie biß die Zähne zusammen, um die in ihr aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken, schoß wie der Blitz die Stufen wieder hinauf und beeilte sich, an die Reling zu kommen, um sich zu übergeben. Ihr war so übel, daß sie das Höhnen der üblen Meute von Matrosen gar nicht kümmerte. Als es ihr etwas besser ging, setzte sie sich steif auf die Bank im Bug des Schiffes, trank kaltes Taillin direkt aus der Kanne und wischte sich ihre feuchte Stirn am Ärmel ab. O ihr Götter, dachte sie. Das war keine Seekrankheit! Zum ersten Mal ging ihr auf, welche zusätzlichen Schwierigkeiten ihr ihre Schwangerschaft auf dieser Flucht eintragen würde. Sie legte sich die Hand auf den Bauch, dorthin, wo das winzige Klümpchen Leben seinen geschützten, von Sorgen unbehelligten Platz hatte, und seufzte.

»Herrin, wach auf!«

Beim Klang von Anvars Stimme fuhr Aurian hoch und richtete in Panik den in sich zusammengesunkenen Schutzschirm wieder auf. Sie verfluchte ihre Sorglosigkeit und Schwachheit. Wenn Miathan sie gefunden hatte … Sie erschauderte. »Was bin ich doch dämlich!« rief sie. »Es tut mir leid, Anvar. Wie lange habe ich geschlafen?«

Anvar blinzelte in die Sonne. »Fast den ganzen Vormittag über, so wie es aussieht. Mach dir keine Sorgen, Herrin. Es war das beste so. Der Erzmagusch hat uns nicht gefunden, und du brauchtest die Erholung. In diesem Zustand …« Errötend hielt er inne.

»Ich weiß«, sagte Aurian kleinlaut. »Zuerst hat das kleine Biest dafür gesorgt, daß ich mich übergebe, und dann dafür, daß ich einschlafe. Wie es scheint, wird es noch eine größere Last werden als Sara.«

»Herrin, das meinst du doch nicht ernst«, ermahnte sie Anvar.

Aurian seufzte. »Eigentlich nicht«, gab sie zu. »Obwohl es im Grunde so ist.«

Sie teilte ihr letztes Taillin mit Anvar. Ihr Frühstück bestand aus knochenharten Keksen, die Anvar beim Koch organisiert hatte. Aurian war der Schlaf gut bekommen. Ihre Übelkeit war verschwunden, und der strahlende Tag hellte ihr Gemüt auf. Die grünen Wellen tanzten in dem steifen Wind, der das geflickte Tuch der alten Segel schwellte. Eine bleiche Sonne stand am Himmel und spielte Fangen mit gewaltigen, zerklüfteten Wolkenbergen, die schnell über den Himmel getrieben wurden. Der frische Wind tat ihr gut und vertrieb die letzten Reste von Müdigkeit. Als sie die entmutigende Aufgabe bewältigt hatten, ihre Mahlzeit zu verzehren, zog Anvar eine kleine Holzflöte aus seiner Tasche. »Soll ich dir etwas vorspielen?« fragte er.

»Das wäre lieb.«

Also spielte Anvar – lustige, lebendige, selbstersonnene Melodien, die zu dem frischen, hellen Tag paßten. Seine Musik hatte bald die ganze Mannschaft herbeigelockt; einer der Seeleute nach dem anderen fand irgendeine Entschuldigung, um in Hörweite sie lachen zu sehen, während sie zum Takt der Musik in die Hände klatschten und mit den Füßen stampften. Bald hatten sie Anvars Repertoire um einige Seemannslieder und -tänze erweitert und tanzten ausgelassen zu den Klängen seiner Flöte. Als der Kapitän hinzukam, um seine Männer zu rügen, weil sie ihre Posten verlassen hatten, wurde er bald von der ausgelassenen Stimmung angesteckt. Angesichts des hervorragenden Wetters befahl er, ein Fäßchen Schnaps anzustechen.

Es lag am Alkohol, daß die Dinge schließlich eine Wendung zum Schlechten nahmen. Da Aurian und Anvar alle ihre Sinne beisammenhalten mußten, tranken sie nicht mit den anderen. Anvar hatte seinen Platz im Bug verlassen, um den Tänzern näher zu sein, und Aurian sah dem Treiben zu, während sie sich weiter auf ihren Schild konzentrierte. Plötzlich legte sich ein Arm um ihre Schulter, und eine Fahne stinkenden Atems schlug ihr ins Gesicht. Ein Zinnbecher, randvoll mit Branntwein, wurde ihr vor die Nase gehalten. »Trink einen Schluck, Schätzchen«, nuschelte eine Stimme. Aurian wandte sich um und blickte in das grinsende, unrasierte Gesicht eines schmutzstarrenden Seeräubers.

»Nein, danke«, sagte sie in dem Versuch, die Situation mit Ruhe und Höflichkeit zu meistern.

»Ich sagte, trink einen Schluck!« Er packte ihr Haar und zwang ihr den Becher mit der anderen Hand an den Mund; dabei schüttete er ihr das klebrige Zeug über ihr Kinn und ihr Hemd. Wegen der Konzentration, die es erforderte, ihren Schild aufrechtzuerhalten, konnte Aurian nur langsam reagieren. Bevor sie sich regen konnte, war Anvar schon zur Stelle. Er riß den Mann hoch und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht, so daß der Matrose aufs Deck krachte. Es stand ein frostiger Glanz in Anvars Augen, und sein vorgeschobenes Kinn gab seinem Gesicht einen Ausdruck, den Aurian nie zuvor an ihm wahrgenommen hatte.

»Laß die Hände von ihr«, knurrte er. Der Strolch rappelte sich auf und hielt plötzlich einen krummen Dolch in der Hand, der nichts Gutes verhieß. Aurian wußte, daß es Schwierigkeiten geben würde. Sie stand ruhig auf und legte die Hand an den Griff ihres Schwertes.

»Warum sollst du zwei haben und wir keine?« maulte der Pirat. »Na ja, sie gehören mir ja beide – wenn ich dich erst aufgeschlitzt habe!« Anvar wich zurück und zog seine eigene Waffe: ein völlig unbrauchbares Ding, das Vannor ihm geschenkt hatte. Die Piraten umringten die beiden Kampfhähne wie Wölfe, die ihre Beute einschließen.