Die Spannung wurde durch das sausende Zischen unterbrochen, als Aurian ihr Schwert zog. Sie stellte sich neben Anvar und verkündete ihre Botschaft mit ruhiger, gleichgültiger Stimme. »Du hältst deine Leute besser zurück, Kapitän, wenn du sie bei dieser Fahrt noch brauchst.«
»Sack und Eier, Jungs – es ist ja nur ein Mädchen«, röhrte der Lump mit dem Dolch und griff an. Aurians Klinge blitzte so schnell auf, daß die Bewegung kaum zu sehen war. Der Krummdolch flog über die Reling ins Meer, während sein Besitzer heulend auf die Planken fiel und sich seine Messerhand hielt.
Die Magusch zeigte mit der Spitze ihres Schwertes auf den glücklosen Piraten. »Wenn du das noch einmal versuchst«, sagte sie in die verblüffte Stille hinein, »wird es dich nicht nur deine Hand, sondern auch Sack und Eier kosten, von denen du gerade gesprochen hast. Dich und jeden anderen, der es wagt, sich mit uns anzulegen.« Sie blickte den Kapitän scharf an, der sie unentschlossen anstarrte. »Möchtest du gerne noch lange genug leben, um das Gold auszugeben, das ich dir gegeben habe?« fragte Aurian.
Fluchend spie er auf Deck. »Geht nach unten, Jungs, und laßt die Passagiere in Ruhe. Mit ihrem Gold können wir uns im Hafen jede Menge Huren leisten.« Unter düsterem Gemurmel zerstreute sich die Mannschaft. Der blutende Messerstecher wurde von seinen Kameraden mitgeschleppt.
Zu Anvars Erstaunen wandte sich Aurian mit einem Lächeln an den Kapitän. »Vielen Dank, Kapitän Jurdag«, sagte sie. »Ich bin dir äußerst dankbar. Du hast uns eine Menge Unerfreulichkeiten erspart.« Anvar starrte sie an; ihre Verstellung verschlug ihm die Sprache, und noch mehr erstaunte ihn, daß der Kapitän darauf einzugehen schien.
»Das war doch selbstverständlich, Lady«, sagte der Kapitän, obwohl ihn sein zusammengekniffener Mund Lügen strafte. »Wenn du oder der junge Herr irgendwelche Schwierigkeiten mit der Mannschaft haben solltet, dann werde ich mich gern darum kümmern. Und ich bin mir ganz sicher, daß es auch nicht nötig ist, so eine Eisenwarenhandlung durch die Gegend zu schleppen.« Seine Stimme enthielt eine unmißverständliche Drohung, während er auf ihr Schwert deutete.
»Ich würde mich nie davon trennen«, versicherte Aurian ihm mit einem ähnlichen Ton in der Stimme. »Es ist doch recht nützlich.«
Der Kapitän starrte erst sie und dann Anvar an. »Beim Blut der Götter!« rief er. »Du hast Mut, dich mit ihr abzugeben!«
Anvar überlegte. Der Kapitän hielt sie also für ein Paar. Nun, das schadete ja nichts. So lässig, wie er nur konnte, legte er Aurian einen Arm um die Schultern. »Oh, ich denke, ich werde schon mit ihr fertig«, sagte er kalt. Der Kapitän warf ihnen noch einen finsteren Blick zu und ging dann unter Deck.
»So, du …« Aurian drehte sich zu Anvar um, ganz Empörung, aber ihre Augen lachten. »Du wirst also mit mir fertig, wie?«
»Herrin, ich würde nicht wagen, das zu versuchen«, gab Anvar reumütig zu. »Ich bin ja heute noch nicht einmal mit mir selbst fertig geworden. Ich hätte nie gedacht, daß dieses Vieh ein Messer ziehen würde. Als ich sah, wie er dich belästigte, hatte ich plötzlich nur noch den einen Wunsch, ihm ein paar Zähne aus seiner Visage herauszuschlagen. Und sag nicht, daß du das schon selbst gekonnt hättest – das weiß ich ja. Aber ich wollte mir einfach das Vergnügen nicht entgehen lassen, das ist alles.«
Aurian lächelte. »Es macht mir nichts aus, Anvar. Es war die Tat eines Kavaliers, und ich bin dir dankbar dafür. Aber wenn du es dir zur Gewohnheit machen solltest, dann hüte dich vor versteckten Waffen. Ich möchte dich nicht auch noch verlieren.« Ihr Lächeln war verschwunden, ihre Augen plötzlich wieder von Traurigkeit überschattet. Abrupt wandte sie sich ab und ging zur Reling auf der anderen Seite des Schiffes. Anvar fluchte leise vor sich hin; es wäre besser, wenn sie nicht alles an Forral erinnerte. Er wünschte sich, er hätte etwas tun können, um ihren Kummer zu mildern.
Aurian stand an der Reling, beide Hände fest aufgestützt, und ließ ihre Blicke über den endlosen Ozean schweifen. Gab es jenseits dieser gewaltigen Fläche noch neue, unentdeckte Länder? Warum war nie jemand hinausgefahren, um nachzusehen, und wenn es jemand versucht hatte, was war aus ihm geworden?
Sie mußte sich eingestehen, daß sie gerne eine solche Fahrt ins Ungewisse unternähme – genauer eigentlich, daß sie sich nach der Möglichkeit sehnte, zusammen mit Forral zu neuen Ufern aufzubrechen. Sie hatte das Gespräch mit ihm über seinen Tod gut im Gedächtnis behalten. Ich werde immer bei dir sein, hatte er gesagt. Aurian spürte ein Prickeln im Nacken. Ob es tatsächlich so war? Sie hatte nie gelernt, seinen eigenartigen, blitzschnellen Kreiselschlag mit dem Schwert zu beherrschen – und trotzdem war ihr heute, als sie den Piraten entwaffnen mußte, diese Technik so geläufig gewesen wie ihr eigener Atem. Konnte es sein, daß er immer noch bei ihr war? Aber wenn es sich so verhielt, dann müßte sie eigentlich in der Lage sein, irgend etwas davon zu fühlen – seine Ausstrahlung zu spüren. Sie schüttelte verwirrt den Kopf; sie hatte nicht vor, sich von ihrem Herzen zum Narren halten zu lassen und eine offensichtliche Unwahrheit zu akzeptieren, nur weil es sie so sehr danach verlangte. Aber dennoch …
Anvar trat schweigend neben sie und ließ die Brise eine Weile mit den rotgoldenen Locken seines Schopfes spielen. »Macht Miathan immer noch seine Mätzchen?« fragte er schließlich. Aurian wußte sofort, daß er ebensosehr darauf bedacht war wie sie, die Stimmung, die zwischen ihnen herrschte, zu erhalten.
»Ich habe seit einigen Stunden nichts mehr von ihm bemerkt, zu unserem Glück«, sagte sie. »Ich denke, er muß sich eine Weile ausruhen – das Suchen mit dem Kristall ist harte Arbeit. Ich wage es aber trotzdem nicht, noch einmal unsere Abschirmung zu vernachlässigen.«
Anvar wollte etwas erwidern, als Aurian ihm zuvorkam und nach seinem Arm griff. Neue, noch nie gehörte Töne hatten ihre Aufmerksamkeit erregt. Sie kamen draußen vom Meer – wilde hohe Wirbel eines Gesangs, der Schauer durch ihren Körper laufen und sie wie gebannt zuhören ließ. »Hör nur«, hauchte sie und zog an seinem Arm. »Ah, hör doch nur! Du hörst es doch, oder?«
Anvar spähte aufs Meer hinaus und versuchte die Quelle der eindringlichen Klänge zu finden. »Was ist das?« fragte er. »Also so was – das ist ja Gesang!«
Sie lauschten wie gebannt, während der Gesang langsam näher kam. Dann sahen sie weit draußen auf den Wellen eine Reihe gewaltiger, düsterer Schatten aus dem Wasser hervorschnellen; sie sprangen in die Höhe, drehten sich in der Luft und tauchten inmitten riesiger, aufspritzender Wogen von weißer Gischt wieder in die See zurück. Feine weiße Fontänen schössen himmelwärts, erreichten doppelte Manneshöhe und ließen im Sonnenlicht einen Regenbogen entstehen. »Wale!« rief Aurian erregt. »Forral hat mir davon erzählt. Oh, Anvar, wie wundervoll!«
In ihrer Aufregung hielt sie die Reling fest umklammert. Als die Kreaturen näher herangekommen waren, sah sie, daß sie in der Tat ungeheure Ausmaße hatten; der größte Wal übertraf das Schiff deutlich an Länge. Es waren ungefähr ein halbes Dutzend Tiere, darunter zu Aurians Entzücken zwei Walbabys. Die Magusch konnte sich gar nicht an ihnen sattsehen, war von ihnen wie verzaubert, bewunderte ihre gewaltigen, stromlinienförmigen Körper, die sich mit feiner Anmut durch das Wasser bewegten; bewunderte die perfekt gebogenen Kurven ihrer Schwanzflossen, die mit unglaublicher Kraft das Wasser peitschten, wenn sie untertauchten. Sie bemerkte auch die zarte Fürsorge, mit der sich diese Familie von Riesen um die beiden Babys kümmerte, immer bedacht, die beiden schützend in ihrer Mitte zu halten.
Sie war so hingerissen, daß sie den Schild vergaß. Als ihre Abschirmung von ihr unbemerkt zu schwinden begann, erreichten sie die ersten Gedanken. Gedanken, so weit und so tief wie der Ozean selbst. Gedanken voller Überraschung und Merkwürdigkeit, voll von der tiefsten Liebe und unbändiger Freude, aber auch von endloser Sorge. Sie, Aurian, war seit Äonen die erste ihres Volkes, die mit denen aus dem Meer sprach. Mit einem Volk, das keine Kriege führte, das keine Gewalt kannte; das seine Tage damit zubrachte, zu spielen und zu singen, sich zu lieben, seine Kinder zu umsorgen und seine tiefen, weisen, sanften Gedanken zu denken. Welche Weisheit! Die Sterblichen und die Magusch, die in ständigem Gezänk und Streit über die Oberfläche der Erde jagten, gönnten sich selbst weder die Zeit noch den Frieden, um ihr Bewußtsein wachsen zu lassen, um eins zu werden mit der Einheit aller Dinge. Aber das Geschlecht der Leviathane beherbergte in seinen mächtigen Gehirnen die Weisheit des Universums – diese Wesen, die von den Menschen Tiere genannt wurden. Und mit ihrer Weisheit besaßen sie die Liebe.