Schließlich fand Anvar seine Stimme wieder. »Aber ich habe gedacht, du würdest mich hassen, Sara. Nach dem, was du gesagt …«
Sie seufzte. »Anvar, ich war tief verletzt. Ich – ich habe kaum gewußt, was ich tat. Vergib mir, bitte. Du bist der einzige Mann, den ich je geliebt habe …« Tränen traten ihr in die Augen und liefen über ihr makelloses Gesicht.
Anvar preßte sie an seine Brust, wollte sie nie mehr loslassen, sein Herz jauchzte zum Himmel. »Sara, mein Liebes, wein nicht. Das ist jetzt alles vorbei. Wir werden tun, was immer du sagst, was immer du willst. Wir werden fortgehen und Zusammensein …«
Sara lächelte. Dann legte sie die Arme um seinen Hals und küßte ihn, lang und innig, mit all der verlorenen Leidenschaft ihrer Jugend. Einen Augenblick lang war Anvar völlig entrückt, aber dann weckte der Kuß all die enttäuschte Sehnsucht, die er in seinem Herzen vergraben hatte. Seine Arme umfaßten sie immer fester, während er ihre Küsse immer drängender und werbender erwiderte. Sein Herz begann zu hämmern, und er merkte, daß er sich vor Erregung kaum noch bewegen konnte, als er sich an den Verschlüssen ihres Mieders zu schaffen machte, um ihre Brüste zu berühren, ihre …
»Was ist denn hier los?« Aurian stand in der Tür, ihre Stimme klang streng, ihr Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. »Ist das deine Art, Vannor für seine Liebe zu danken?«
Sara stieß einen kurzen Angstschrei aus, während sie versuchte, den offenen Ausschnitt ihres Kleides zusammenzuraffen.
Anvar stellte sich zwischen die beiden Frauen. »Kümmere du dich um deine eigenen Angelegenheiten«, erklärte er der Magusch kategorisch. »Sara und ich waren früher ein Paar und wurden nicht durch unsere Schuld getrennt – ich wurde dir als Sklave verkauft, und auch sie ist verkauft worden, in eine andere Art von Sklaverei. Wir haben genug gelitten, und nun nehmen wir uns, was uns zusteht. Versuch nicht, dich einzumischen.«
»Mich einzumischen!« schrie Aurian. »Bei den Göttern, Anvar. Wie konntest du nur so tief sinken? Die Frau eines anderen Mannes – eines guten Mannes, der dir vertraut hat!«
»Du brauchst mich nicht zu belehren!« schrie Anvar zurück, außer sich vor Zorn über das heimtückische Schuldgefühl, das ihre Worte in ihm hervorgerufen hatten. »Du – du Mörderin!«
Aurian starrte ihn mit offenem Mund an; der Schock hatte alles Blut aus ihrem Gesicht weichen lassen. Dann wirbelte sie herum und war fort. Sara verzog ihren Mund zu einem selbstgefälligen Lächeln.
Auf Deck war alles ruhig. Außer dem Kapitän am Steuerrad und dem einsamen Ausguck hoch oben im Hauptmast war keine Seele zu sehen. Der Rest der Mannschaft war unter Deck, bedrückt durch den Verlust zweier Kameraden bei dem Unfall am Nachmittag. Einer der Toten war der Harpunier gewesen, um den es Aurian nicht weiter leid tat. Sie begab sich schnell zu ihrem gewohnten Platz im Vorschiff; in ihrem Kopf drehte sich noch alles um den Schock dessen, was sie gerade erlebt hatte, und von der Gehässigkeit, mit der Anvar sie angegriffen hatte.
›Mörderin!‹ Das Wort klang ihr in den Ohren. Wie hätte er es auch verstehen sollen? Für ihn war der Leviathan ein Tier. Er hätte ebensoschnell gehandelt, um ein Menschenkind zu retten. Zudem war Anvar nicht – so wie sie – als Krieger ausgebildet. Die Leute benötigten die Krieger, um für sie zu töten, damit sie ihr eigenes Gewissen nicht mit diesen Tagen belasten mußten und die Schuld auf andere abladen konnten.
Forral hatte das gewußt. Er hatte ihr einmal erklärt: »Es ist ein schmutziger Job, wenn es einmal ernst wird. Sie brauchen dich, damit du durch Blut und Dreck und Leichen watest, während deine Freunde ringsum abgeschlachtet werden. Sie brauchen dich, um mit den anderen fertig zu werden, die ihnen im Weg stehen, ohne daß sie dabei ihre schwabbeligen Leiber riskieren oder ihr schneeweißes Gewissen aufs Spiel setzen; und dann, falls du auch noch die Stirn hast, das zu überleben, danach als eine lebende Erinnerung und Mahnung herumzulaufen – dann fallen sie über dich her und schreien ›Mord‹ und ›Greueltat‹!«
»Und warum machen wir es dann?« hatte sie ihn gefragt.
Daraufhin hatte er gelächelt. »Denk doch mal an unsere Garnison hier«, hatte er gesagt. »Es gibt nichts, das mit der Kameradschaft vergleichbar ist, die wir Krieger untereinander haben. Und erinnerst du dich noch an unseren Kampf, an dem Tag, als wir zum ersten Mal miteinander geschlafen haben? Wenn du noch weißt, wie das damals war, dann weißt du alles.« Und sie hatte ihn verstanden.
Ihr Götter, wie vermißte sie Forral! Wie brauchte sie ihn. Ihr war nicht mehr geblieben; ihr Herz war gefüllt mit einer öden, schmerzhaften Leere. Wie sollte sie damit für den Rest ihres Lebens fertig werden. Ihr Blick fiel auf das Schnapsfäßchen, das achtlos auf Deck zurückgelassen worden war. Vor ihren Füßen rollte im Speigatt ein leerer Zinnbecher hin und her. Eine Stimme aus ihrem Inneren warnte sie vor der Gefahr, sagte ihr, daß sie aufmerksam bleiben mußte, aber sie ignorierte sie. Was machte das schon? dachte sie dumpf. Ich habe sowieso alles versaut. Sie hob den Becher auf und schenkte sich Branntwein ein. Sie ließ sich völlig gehen, aber vielleicht half das ja, den Schmerz für eine Weile zu betäuben.
Sie hatten miteinander geschlafen. Als die Magusch die Kabine verlassen hatte, hatte Sara Anvar mit gefährlicher Wildheit an sich gerissen, ihn mit sich in die Koje gezogen und an seinen Kleidern gezerrt. Es war schon so lange her … Wie hätte er widerstehen können? Wie Tiere hatten sie einander in der ekligen Kabine genommen, wie von Sinnen in ihrer Lust. Jetzt, da es vorbei war, fühlte sich Anvar ausgelaugt und schuldig und irgendwie benutzt. Die alte, süße Unschuld ihrer Liebe gab es nicht mehr. Dann beschuldigte er sich selbst der Dummheit. Er und Sara liebten einander, und jetzt war sie endlich wieder sein. Was sollte im Vergleich dazu noch eine Rolle spielen? Er drehte sich herum, um sie in die Arme zu nehmen. Vielleicht wäre es diesmal besser …
»Nicht jetzt.« Saras Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht.
»Warum nicht?« rief Anvar in gekränktem Ton und streckte seine Arme wieder nach ihr aus.
Sara schlug seine Hand weg und besänftigte ihn dann mit einem Lächeln. »Dafür werden wir später Zeit haben«, sagte sie, »wenn wir von diesem Seelenverkäufer herunter sind. Aber jetzt mußt du gehen und dafür sorgen, daß die Magusch wach bleibt.«
»Was? Sie wird mich kaum noch sehen wollen nach dem, was ich ihr gesagt habe.« Wieder sprang Anvar ein Schuldgefühl an.
»Wen interessiert schon, was sie will.« Saras Stimme klang hart. »Das einzig Wichtige ist, daß wir diese Reise überleben. Verstehst du denn nicht? Der Erzmagusch ist nicht hinter uns her. Wenn wir erst im Hafen anlegen, können wir sie und ihn für immer loswerden.«
Aurian nie wiedersehen? Irgendwie konnte Anvar sich das nicht vorstellen. Aber Sara hatte wohl recht, nahm er an. Nach dem heutigen Abend würde die Magusch ihn ohnehin nie mehr wiedersehen wollen. Alles hatten sich so plötzlich verändert … . aber Sara hatte recht. Ihre erste Sorge war jetzt, daß der Erzmagusch sie vorläufig nicht fand. Seufzend suchte er auf dem Boden seine Kleider zusammen und zog sich hastig an. Sara gab ihm einen Abschiedskuß auf die Wange und entließ ihn damit.
Anvar schlich übers Deck und konnte seinen Widerwillen, mit der Magusch zusammenzutreffen, kaum überwinden. Aber all diese Gedanken waren schlagartig verflogen, als er sie, den Kopf auf die Reling gelegt und einen halb geleerten Becher Schnaps neben sich, im Vorschiff sitzen sah. Rinnsale von Tränen glänzten auf ihrem Gesicht. Anvar überlief es kalt; er hatte plötzlich das Gefühl, daß die Gefahr ganz in der Nähe lauerte. Er beugte sich über sie, um sie zu wecken, und schüttelte sie an der Schulter.
Dann geschah alles mit unglaublicher Geschwindigkeit. Aurian war auf den Füßen, ihre Hände schlössen sich zu einem eisernen Griff um seine Kehle, und – die Augen, die ihn da anstarrten, waren nicht die ihren! Anvar rang nach Luft und umklammerte in Panik die Finger, die ihn würgten. Aurians Mund öffnete sich, ihr Gesicht verkrampfte sich zu einem entsetzlichen Zerrbild, und ihm gefror das Blut, als Miathans Stimme ihn aus ihren geöffneten Lippen anknurrte. »Anvar! Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte dein elendes Leben schon vor langer Zeit beenden sollen. Und welche Gunst des Schicksals, daß ich dich jetzt mit ihren Händen erwürgen kann!«