Выбрать главу

»Jetzt nicht«, sagte Forral geistesabwesend. »Ich bin beschäftigt.«

Aurian zog ein langes Gesicht. Dann saß sie eine Weile untätig auf ihrem Stuhl und scharrte mit den Füßen. »Forral, ich langweile mich«, jammerte sie.

»Ich nicht«, erwiderte er selbstgefällig, »dazu ist diese Geschichte hier viel zu interessant.«

Aurian stampfte mit den Füßen auf .»Das glaube ich dir nicht!« rief sie. »Das sagst du nur, um mich dazu zu bringen, dieses blöde Zeug zu lesen!«

Forral krümmte sich innerlich. Das Kind war klüger, als ihm guttat. Nachdem er schnell nachgedacht hatte, setzte er eine verletzte Miene auf. »Meinst du, ich würde lügen? Wenn du mir nicht glaubst, lese ich dir die Geschichte vor.« Aurian wirkte erleichtert und setzte sich zu seinen Füßen.

Es war wirklich eine aufregende Geschichte, Aus eben diesem Grund hatte Forral sie auch ausgesucht. Er blickte hinunter in das verzückte Gesicht des Kindes. Als sie den Höhepunkt des Märchens erreicht hatten – die tapfere junge Heldin war gerade von wilden Kobolden und Trollen auf einem Berg gefangengenommen worden, –, legte er das Buch beiseite und gähnte.

»Nicht aufhören«, drängte Aurian ihn ängstlich und biß sich auf die Lippe. »Was passiert als nächstes?«

Forral zuckte die Achseln. »Ich hab’ jetzt keine Lust mehr, weiterzulesen. Ich glaube, ich mache ein Schläfchen.« Dann legte er das Buch auf den Stuhl, ging aus dem Zimmer und schloß, ungeachtet der wütenden Proteste des Kindes, entschlossen die Tür hinter sich.

Eine Stunde später kehrte der Schwertkämpfer zurück, um Aurian mit Tränen der Enttäuschung in den Augen über das Buch gebeugt zu finden. »Es ergibt keinen Sinn«, jammerte sie. »Es sind einfach nur kleine schwarze Punkte, und ich werde nie herausfinden, was passiert ist!«

Forral legte seinen Arm um sie. »Genau das habe ich zu deinem Vater gesagt, als er mir mit diesem Buch das Lesen beigebracht hat.«

Aurians Augen weiteten sich. »Das hast du gesagt? Und was hat er geantwortet?«

»Das war eine schlimme Sache.« Forral grinste über den verblüfften Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Er sagte, wenn ich herausfinden wollte, was passiert ist, dann würde ich hart arbeiten und ihm erlauben müssen, mich zu unterrichten.«

Heiße Wut malte sich auf Aurians Zügen ab. »Du hast mich überlistet! Du hinterhältiges, gemeines Biest!« Sie schleuderte das Buch gegen die Wand und rannte hinaus in ihr Zimmer, wo sie die Tür mit lautem Knall hinter sich zuschlug.

Anschließend schmollte sie zwei Tage lang und weigerte sich, mit ihm zu sprechen. Eilin zog angesichts dieser Veränderungen die Augenbrauen hoch, enthielt sich jedoch jeder Bemerkung. Forral vermißte Aurians fröhliche Gesellschaft mehr, als er es für möglich gehalten hätte, und schließlich begann er sich Vorwürfe zu machen, weil er das Kind zu sehr in die Enge getrieben hatte. Zu guter Letzt konnte er ihr wütendes Schweigen nicht mehr ertragen. »Es tut mir leid«, entschuldigte er sich. »Du hast ganz recht. Ich war hinterhältig und gemein, und ich bitte um Verzeihung. Ich werde dir den Rest der Geschichte vorlesen, wenn du möchtest.«

Aurian schlang ihre Arme um ihn, und ihr Gesicht leuchtete auf. »Ich liebe dich, Forral.«

Forral spürte, wie sich ihm die Kehle zuschnürte. »Ich liebe dich auch«, sagte er heiser. »Warum gehst du jetzt nicht und holst das Buch?«

Sie trat einen Schritt zurück und sah ihn nachdenklich an. »Du möchtest wirklich, daß ich lesen lerne, nicht wahr?«

Er nickte. »Es bedeutet mir viel, Aurian. Du kannst dir nicht vorstellen, wie wichtig es ist.«

Aurian seufzte und machte ein Gesicht wie ein Gefangener, kurz bevor er zum Schafott gezerrt wird. »Dann ist es wohl besser, wir fangen sofort damit an.«

Das Kind brauchte lange, um die Grundlagen des Lesens zu begreifen. Forral vermutete, daß ein Gutteil der Schuld bei ihm lag, denn Aurian war durchaus intelligent, aber er wußte, daß es mit seinen Fähigkeiten als Lehrer nicht zum besten bestellt war. Er konnte nichts tun, als seine mangelnden Fähigkeiten mit Geduld wieder wettzumachen und ihre Unterrichtsstunden möglichst kurz zu halten, so daß Aurian aufhören konnte, bevor sie zu müde wurde oder den Mut verlor. Dann las er ihr etwas vor in der Hoffnung, daß er in ihr auf diese Weise die Lust zum Lesenlernen wecken würde. Und schließlich hatte er auch Erfolg. Am Ende des langen Winters las Aurian alles, was sie in die Finger bekommen konnte, und Eilin mußte aufpassen, daß Geraints Zauberbücher gut versteckt waren.

Forral brachte Aurian in diesem Winter auch viele andere Dinge bei. Er erzählte ihr von Nexis, der Königin der Städte, die im Südwesten lag und Standort der Akademie der Magusch war, wo unter Führung des Erzmagusch Miathan alle magischen Lehren studiert werden konnten. Er erzählte ihr von der Garnison in Nexis, die die großartige Streitmacht der Stadt beherbergte und gleichzeitig die größte Militärschule des Landes war. Aurian erfuhr, was jenseits ihres Tales lag – die nahe gelegenen nördlichen Hügel, in denen die Menschen hauptsächlich von Forstwirtschaft, Vieh- und Schafzucht lebte. Und dann war da noch die Ostküste, die für den Fischfang berühmt war, und schließlich das Land im Süden und Westen, wo der Ton für die Töpferei gewonnen wurde. Außerdem bauten die Menschen dort Korn, Wachs und Wein an. Auf den Markt gebracht wurde das Ganze von der mächtigen Händlergilde in Nexis, die den Handel zwischen Farmern und Fischern auf der einen Seite und den Handwerkern in Dörfern und Städten auf der anderen Seite organisierte.

Viele Stunden brachten sie am Feuer zu, während Aurian verzückt lauschte und Forral ihr Geschichten aus seinem Leben als Söldner erzählte, das ihn auch in die geheimnisvollen Südlichen Königreiche jenseits des Meeres geführt hatte, wo wilde, dunkelhäutige Krieger zu Hause waren. Sie saß zu seinen Füßen, mit weit aufgerissenen Augen und vollkommen entrückt, während er von Schiffen und Stürmen sprach und von den richtigen Walen, die die Herren der Meerestiefe waren. Er erzählte ihr aus dem alten Legendenschatz grauenerregende Geschichten über das untergegangene Volk der Drachen, die auf ihre Art machtvolle Magier waren und deren Augen tödliches Feuer aussenden konnten, und von dem fürchterlichen Geschlecht der Geflügelten Krieger, das angeblich die südlichen Berge bewohnte. Obwohl der Schwertkämpfer kein Gelehrter war, gab er ihr doch das bescheidene geschichtliche Wissen weiter, das er selbst sein eigen nannte, und brachte ihr auch das wenige bei, das man von den Göttern wußte. Da waren einmal die Göttinnen: Iriana, Göttin der Tiere, Thara, Göttin der Felder, und Melisanda, Göttin der Heilenden Hände; und die Götter – Chathak, Gott des Feuers und Schutzpatron der Krieger, Yinze, Gott des Himmels, und Ionor der Weise, Gott des Ozeans, der im Pantheon der Südlichen Königreiche auch als Schnitter der Seelen bezeichnet wurde. Aurian staunte und lernte.

Der Frühling überzog das Land in diesem Jahr wie in einer einzigen herrlichen Explosion von Wärme, die schnell auch die letzten Spuren des schrecklichen Winters verwischte. Die Bäume trieben Blätter und Blüten, und plötzlich blühte und grünte es allerorten. Wieder einmal erfüllte jubilierender Vogelgesang die Wälder um den See herum mit Leben. Aurian und Forral gewöhnten sich an, einen Großteil ihrer Zeit draußen im Sonnenschein zu verbringen, wo sie nach frühem Blattgemüse suchten, um ihre beschränkte Winterkost ein wenig anzureichern. Außerdem halfen sie Eilin beim Auspflanzen ihrer Anzucht und bei den Arbeiten, die sie sich vorgenommen hatte, um das fruchtbare Land über die nähere Umgebung des Sees hinaus auszudehnen.

Jetzt, da überall in den Wäldern das Leben knospte, wäre Forral gern einmal auf die Jagd gegangen. Sie hatten im Winter nur wenig Fleisch gehabt – vor allem das zähe Pökelfleisch der männlichen Zicklein, die Eilins Ziegen im vergangenen Jahr geworfen hatten. Obwohl die Magusch versucht hatte, dem strengen Geruch und Geschmack dieses Fleisches in gut gewürzten Suppen und Eintöpfen etwas von seiner Eigenart zu nehmen, hatte Forral nun mehr als genug von dem Zeug. Ein Kaninchen würde ihnen allen sicher gut schmecken, dachte er, oder vielleicht ein Vogel – alles, nur keine Ziege! Während seiner Tätigkeit als Söldner hatte der Schwertkämpfer sich eine gewisse Fertigkeit mit Fußangeln und Pfeil und Bogen erworben, und ein wenig zögernd sprach er Eilin darauf an. Da die Erdmagusch im Einklang mit dem Land und seinen Geschöpfen lebte, erwartete er eigentlich ärgerliche Zurückweisung. Außerdem rechnete er damit, daß Aurian sich vielleicht aufregte, wenn ein Tier, das sie zu ihren Freunden zählte, auf dem Abendbrottisch angerichtet würde. Daher hatte ihn Eilins Antwort auf seine zaghafte Frage maßlos überrascht. »Unbedingt, Forral. Wenn du jagen willst, wird Aurian dir zeigen, wie wir das hier im Tal machen.«