Der gewaltige Sturm hatte sie bis zu den sagenumwobenen südlichen Ländern verschlagen!
Der Wal hielt sich in einer Entfernung von einem Bogenschuß von der Küste entfernt, wo das Wasser noch tief genug war, um seine gewaltige Körpermasse aufzunehmen. Aurian drehte sich zu Anvar um. »Hier ist für dich die Reise zu Ende«, sagte sie knapp. »Er sagt, daß seine Schwester Sara hier abgesetzt hat; sie muß also irgendwo in der Nähe sein.«
Anvar blickte sie verblüfft an. »Du kannst also wirklich mit diesem Ding sprechen, hm?« sagte er.
»Ding? Er ist ein Freund, Anvar, und ich ziehe die Unterhaltung mit ihm der mit dir über alle Maßen vor. Du kannst also gehen.« Aurian schob die Kinnlade vor und wandte ihren Blick von Anvars verletzter Miene ab. Es ist ein wenig spät, sich jetzt verletzt zu zeigen, dachte sie grimmig.
Anvar blickte auf das Wasser hinab, das hier in der geschützten Bucht kristallklar war. Seinem Blick folgend, sah Aurian eine Myriade bunt leuchtender Fische durch das Lapislazuliblau der Tiefe dahinschießen.
»Aurian, es ist zu tief hier! Ich kann nicht …«
Die Magusch sah die Panik in Anvars Augen, und dann begriff sie; er konnte ja nicht schwimmen. Sie konnte sich noch recht gut erinnern, welche Ängste sie in der letzten Nacht ausgestanden hatte, als das Wasser in ihre gequälten Lungen geströmt war, und schauderte. Anvar zitterte, und es gelang ihr nicht, ein Gefühl des Mitleids für ihn zu unterdrücken. »In Ordnung«, seufzte sie. »Ich werde dir helfen. Ich werde vorangehen …«
Und schon rutschte sie von dem gerundeten Rücken des Wales hinunter ins Wasser. Nach der lähmenden Kälte des Meeres in den nördlichen Breiten war die Wärme des Wassers in der Bucht ein angenehmer Schock.
Nach einer kurzen Besprechung mit dem Wal wandte sie sich wieder Anvar zu. »Du mußt jetzt hier herunterrutschen. Seine Fluke ist genau …«
»Seine was?«
»Seine Flosse, wenn dir das lieber ist. Sie ist hier direkt unter der Wasseroberfläche, so daß du darauf stehen kannst. Du wirst also nicht untergehen.«
Zögernd biß sich Anvar auf die Lippen.
»Mach schon – er sagt, daß es ihm nichts ausmacht«, drängte Aurian.
»Das kann ja sein, aber mir macht es etwas aus«, brachte Anvar murmelnd zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Sieh mal, es ist vollkommen sicher. Ich passe auf, daß dein Kopf nicht unter Wasser kommt, das verspreche ich. Vertrau mir doch wenigstens ein einziges Mal.« Vergeblich versuchte sie, ihrer Stimme die Schärfe zu nehmen.
Schließlich schaffte sie es, ihn zu überreden, auf die Fluke herunterzukommen, die der geduldige Wal immer noch stillhielt. Dort stand Anvar, das Wasser bis zum Kinn.
Dank sei den Göttern, daß er groß ist, dachte Aurian, während sie zu ihm hinüberschwamm. »Umklammere mich nicht«, warnte sie ihn, als sie merkte, was er vorhatte. Sie richtete sich auf und stellte sich neben ihn auf die Fluke, und dann erkannte sie sein Problem. Es war schwierig, in dem gut tragenden, salzhaltigen Wasser aufrecht zu stehen. Der Körper wollte sich neigen und auf der Oberfläche treiben.
Aurian legte eine Hand auf Anvars Hinterkopf.
»Was hast du vor?« keuchte er.
»Ich halte deinen Kopf über Wasser. Du brauchst nicht mehr zu tun, als tief einzuatmen und dich zurückzulegen – entspann dich einfach, und schon werden deine Füße von allein aufschwimmen. Du wirst auf dem Wasser treiben, das verspreche ich dir, und du wirst nicht untergehen. Und ich werde dich die ganze Zeit über festhalten.«
Nach einer Weile meinte Anvar, genügend Mut zusammengerafft zu haben, um ihrem Vorschlag zu folgen. Aber als er in das Wasser tauchte, geriet er sofort in Panik, und in einem einzigen wilden Aufplatschen von Wasser und Schaum zappelte er, schlug um sich und versuchte, sich an ihr festzuklammern. Sie mußte einmal untertauchen, um ihn davon abzuhalten, allzuviel Wasser zu schlucken, und hatte ihn schließlich wieder richtig herum auf der Fluke. Als sie sich den schwer herabhängenden Vorhang nasser Haare aus dem Gesicht strich, stand sie einem Anvar gegenüber, der sie empört aus roten, vor Salz brennenden Augen ansah. »Du hast doch gesagt, ich würde treiben!«
»Ich habe gesagt, du sollst dich entspannen, du Dummkopf, und dann würdest du treiben!«
»Ich kann mich nicht entspannen. Ich habe Angst!« Es dauerte noch eine ganze Weile, aber schließlich funktionierte es. Anvar lag auf dem Rücken, und ein erstauntes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Anvar, vergiß nicht zu atmen!«
Wieder Gezappel. Aber schließlich ging es dann doch, und ihn an Land zu ziehen, war danach eine vergleichsweise einfache Aufgabe. Nach ein paar Minuten standen sie knietief in der Gischt der Brandung, die immer wieder den weißen Sandstrand benetzte.
»Also«, sagte Aurian, »wenn du jemals wieder in tiefes Wasser gerätst, dann bist du wenigstens in der Lage, dich auf dem Wasser treiben zu lassen.« Einem Impuls gehorchend, griff sie in ihren Stiefel, zog einen langen, tödlichen Dolch hervor und gab ihn ihm, ohne ihm dabei in die Augen zu sehen. »Nimm dies«, sagte sie ihm. »Dann bist du wenigstens nicht ganz unbewaffnet.«
Es ließ sie beide nicht unberührt, daß jetzt der Augenblick des Abschieds gekommen war. Eine plötzliche, gespannte Stille trat ein, während sie dastanden und einander anblickten. Plötzlich fühlte sich Aurian versucht, es sich doch noch einmal zu überlegen. Konnte sie Anvar wirklich verlassen? Sie brachte es nicht fertig, sich von ihm abzuwenden, und auch er schien unglücklich und unentschieden zu sein und biß sich auf die Lippen, während er mit ihrem Dolch spielte. Ach, es ist ja verrückt, dachte Aurian. Wir benehmen uns wie Kinder! Eine Entschuldigung kam nicht in Frage – er war es schließlich, der sich im Unrecht befand –, aber sie wollte gerade ihren Mund aufmachen, um ihm zu sagen, daß sie doch besser zusammenblieben, als Sara aus dem Wald auftauchte und den Strand zu ihnen heruntergelaufen kam. Sie rief Anvar.
»Ich hatte solche Angst! Diese furchtbaren Seeungeheuer – ich habe fast geglaubt, daß ich von ihnen aufgefressen würde!« Sie stieß einen schrillen Schrei aus. »Oh! Paß auf – da ist einer direkt hinter dir! Schnell, komm aus dem Wasser heraus!«
»Sara – den Göttern sei Dank, daß du in Sicherheit bist!« Anvar vergaß die Magusch und rannte Sara schaumaufspritzend entgegen. Aurian fluchte und wandte sich angeekelt ab. Gegen die warme Brandung ankämpfend, schwamm sie wieder hinaus zu dem Leviathan und kletterte wieder auf seinen Rücken. Ihr Herz zog sie schwerer hinab als ihre nassen Kleider.
Als sie sich umschaute, lag Sara in Anvars Armen. Ihre schrille Stimme schallte gut verständlich über das Wasser. »Na und, wen interessiert das, ob sie geht! Wir wollen sie ja sowieso nicht hier bei uns haben!« Die Magusch biß die Zähne zusammen und preßte sich auf die warme Haut des Wales.
»Also los«, sagte sie. sie hörte nicht mehr Anvars verzweifelte Stimme, die sie zurückrief.
Anvar war erzürnt. »Sie still! Sie kann dich doch hören!« Er mochte nicht glauben, daß Aurian sie tatsächlich zurückließ. Er fühlte sich irgendwie verloren, haltlos. Er rief ihr nach und bat sie zu warten, aber gleichzeitig trompetete der Wal, atmete in einer donnernden Fontäne von Wasser und Luft aus. Sie konnte ihn nicht mehr gehört haben. Saras Arme schlangen sich verführerisch um seinen Hals, während sie ihn küßte, sein Gesicht vom Meer wegdrehte und ihn wirksam davon abhielt, noch einmal zu rufen.
»Kümmere dich nicht mehr um sie«, murmelte sie. »Denk an deine Freiheit, Anvar. Denk an uns.«
Der Leviathan kam sehr schnell voran, wenn er nur wollte. Anvar macht sich von Sara los, aber Aurian war bereits außer Rufweite. »Was, im Namen aller Götter, hast du eigentlich vor?« fuhr er Sara an. »Es ist keine Frage der Freiheit, du Idiotin. Nicht jetzt jedenfalls. Wir hätten zusammenhalten müssen.« Aber im innersten Herzen wußte er, daß er selbst es war, der die Magusch fortgejagt hatte, und bei dem Gedanken wurde ihm übel vor Scham.