»Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen!« brauste Sara auf. »Soll es vielleicht jetzt meine Schuld sein? Ich war es nicht, der sie eine Mörderin nannte. Ich habe gedacht, du wolltest, daß wir zusammen sind, und zwar nur wir beide.« Ihr Gesicht verzog sich, und Tränen quollen aus ihren unschuldigen violetten Augen. »Ich dachte, du liebst mich, aber du hattest es wohl mehr auf sie abgesehen.« Sie hob ihre zerfetzten Röcke hoch und lief fort, den Strand entlang.
Bei den Göttern, was konnte sonst noch schiefgehen? Mit einem Stöhnen nahm Anvar die Verfolgung auf. Die Morgensonne brannte aus einem pulsierenden, wolkenlosen Firmament herab. Ihre milde Hitze reichte aus, um die Kleider auf Anvars Körper zu trocknen, aber die Kälte, die das Unwetter der letzten Nacht zurückgelassen hatte, schien sich nicht mehr aus seinen Knochen vertreiben zu lassen. Seine Haut fühlte sich von dem trocknenden Salz und dem Sand angespannt und aufgerauht an. Seine Augen brannten, sein ganzer Leib schmerzte. Er keuchte in der warmen Luft, als er Sara einholte und seinen Arm um sie legte. »Es tut mir leid«, erklärte er ihr. »Es tut mir wirklich leid, und ich will wirklich mit dir Zusammensein.«
Nach einer Weile hatte sich Sara besänftigen lassen, aber es blieb eine gewisse Härte in ihrem Blick, die Anvar das Gefühl gab, als würde er sich noch eine ganze Weile auf dünnem Eis bewegen. Verdammte Frauen! dachte er mißmutig. Er ließ seine Blicke hinaus auf See schweifen, aber Aurian war verschwunden. Sie waren allein. »Komm«, sagte er resigniert. »Wir müssen uns etwas Wasser suchen.«
Glücklicherweise gab es reichlich frisches Wasser im Wald. Es quoll aus der steilen Felswand, die sich hinter dem schmalen Waldstreifen erhob, und durchfloß in munteren Bächen den üppig grünen Wald auf seinem Weg hinunter zum Meer. Anvar und Sara brauchten nur ein kleines Stück am Strand entlangzugehen, bis sie die erste Mündung eines solchen Baches entdeckten. Sie folgten dem Wasserlauf aufwärts in den dunklen Wald hinein, wo die Luft kühl und feucht war und die breitblättrigen Bäume und ein Dschungel dichter Vegetation über ihren Köpfen den größten Teil des Sonnenlichts fernhielten.
Die Luft war erfüllt von einem zirpenden Chor von Insektenstimmen, in den sich schrille, durchdringende Schreie und Rufe aus der grünen Decke über ihnen mischten. Sara klammerte sich angstvoll an Anvar; die fremdartigen Geräusche waren ihr unheimlich.
»Es ist schon gut«, beruhigte er sie. »Es sind nur Tiere und Vögel.« Aber er schnitt dennoch mit Aurians Dolch zwei kräftige Stecken von einem Baum ab und dachte dabei, wie sich die Magusch wohl über diesen Mißbrauch ihrer guten Klinge geärgert haben würde.
Das Wasser des Bächleins durchfloß auf seinem Weg zum Meer einen kleinen, tiefen Teich. An seinem Ufer war ringsum die Vegetation bis auf die nackte Erde und etwas Laubstreu abgefressen. Das schlammige Ufer war übersät mit den Spuren von Tieren, die an der Wasserstelle getrunken hatten. Anvar sah sie sich genau an. Spuren von kleinen Nagetieren, Hufspuren von Schalenwild, gewundene Spuren von Schlangen – und was war das? Es sah aus wie Abdrücke einer Hand – einer kleinen menschlichen Hand! Anvar spürte ein Prickeln im Nacken. Plötzlich schien der Wald von unsichtbaren Augen erfüllt zu sein. Eilig verwischte er die Spuren mit seinen Stiefeln, bevor Sara sie bemerken konnte.
Ausgetrocknet von der Hitze und dem Seewasser, das er geschluckt hatte, warf er sich der Länge nach hin, um zu trinken und sein salzverkrustetes Gesicht mit dem kühlen frischen Wasser abzuwaschen. Sobald sein erster, dringendster Durst gelöscht war, sah er sich um, fürchtete für einen Moment, im Waldesdickicht seinen Weg zu verlieren, bis ihm einfiel, wie dumm das war – er brauchte ja nur dem Lauf des Baches zu folgen. Falls Aurian ihre Meinung änderte …
Aber das würde sie nicht, nicht nach dem, wie er sie behandelt hatte. Er bedauerte seine schroffen Worte der vergangenen Nacht. Wenn er nur sein Temperament gezügelt hätte, statt zum Angriff überzugehen, nur weil sie Schuldgefühle in ihm wachgerufen hatte. Sie hätte es sicherlich verstanden …
Bei den Göttern, war er hungrig! In dem verzweifelten Wunsch, das an ihm nagende Gefühl der Leere in seinem Magen zu beseitigen, ging Anvar die Möglichkeiten durch, an diesem fremdartigen Ort etwas Eßbares zu finden.
Sara war wohl mit dem gleichen Gedanken beschäftigt. »Anvar, ich brauche etwas zu essen.« Das war kaum weniger als ein Befehl, dachte Anvar irritiert. Aurian hatte nie so zu ihm gesprochen, und er war ihr Sklave gewesen.
Er mußte sich zur Ruhe zwingen, als er erwiderte: »Ich ebenfalls. Laß mich eine Minute nachdenken.«
»Aber ich habe Hunger. Ich will etwas zu essen, sofort!«
Glücklicherweise kam Anvar sein vor langer Zeit verstorbener Großvater zu Hilfe. Er hatte dem Jungen als Kind immer wieder Geschichten aus seiner eigenen Jugend auf dem Lande erzählt. Mit neun Jahren war Anvar die Technik des Fischfangs mit der bloßen Hand bestens vertraut gewesen – wenigstens in der Theorie.
»Komm«, sagte er zu Sara. »Wir fangen uns ein paar Fische.«
In der Praxis erwies es sich allerdings wesentlich schwieriger als erwartet. Draußen im offenen Meer schienen die Fische sich ebenfalls irgendwelche Tricks angeeignet zu haben. Ein ums andere Mal verschwanden sie blitzartig, wenn Anvars vorsichtige Hand sich fast ganz um ihre schlanken, schimmernden Körper geschlossen hatte, und ließen den verzweifelten Jäger mit einer Handvoll Meerwasser zurück.
Anvar stand bis zur Hüfte im Meer und wurde immer gereizter. Warum hielten die verdammten Dinger nicht still? Seine schmerzenden Augen mochten nicht länger in das blendende Wasser starren, und die Sonne brannte gnadenlos auf seinen ungeschützten Kopf und Rücken nieder. Er schien es nun schon seit Stunden zu versuchen. Und dabei konnte er den Eindruck nicht loswerden, daß die Fische sich über seine unbeholfenen Versuche lustig machten. Als er seine Hände aus dem Wasser zog, war die Haut seiner Finger bereits weiß und runzlig.
»Anvar? Anvar!« Saras Stimme schallte vom Strand herüber. Was wollte sie? Er war sich undeutlich bewußt, daß sie ihn schon einige Zeit rief. Er drehte sich um und sah sie dort stehen, lachend, einen Beutel in der Hand, den sie aus einem weißen Stück Leinen gemacht hatte, der aus einem ihrer Unterröcke stammte. Er war prall gefüllt und wand sich unter ihrem Griff. »Schau mal! Ich habe einen gefangen!«
Einen Sekundenbruchteil hätte er sie mit Wonne erwürgen mögen. Dann begriff er langsam die Bedeutung ihrer Worte, und Erstaunen und Erleichterung erfüllten ihn. So schnell, wie es im hüfthohen Wasser möglich war, watete er zurück zu ihr an den Strand. »Wie um alles in der Welt hast du das geschafft?« fragte er und versuchte, dabei nicht so empört zu klingen, wie er war.
Sara ließ das zappelnde Bündel auf den Sand fallen und legte ihre Arme um seinen sonnenverbrannten Hals, so daß er aufjaulte. »Ganz einfach«, grinste sie. »Bist du nicht stolz auf mich?«
»Natürlich!« gab er kurz zurück und starrte sie an. Jetzt lenkte Sara ein.
»Hast du es nicht gemerkt?« sagte sie. »Es ist Ebbe, das Wasser geht zurück.« Sie deutete auf ein Riff, das jetzt über die Wasseroberfläche emporragte und wie ein Finger zum Meer hin zeigte. »Da drüben gibt es jede Menge Fisch, der in den Aushöhlungen der Felsen festsitzt.«
»Ebbe?« Anvar kam sich dumm vor. Er wußte zwar, daß es Gezeiten gab, hatte aber – als mittelloser Städter geboren und dann versklavt – natürlich ihre Bedeutung nie verstanden.
Sara begriff sofort, was los war. »Oh«, sagte sie, »du warst vorher nie an der See, oder?«
»Wie sollte ich wohl?« fragte Anvar. »Weißt du, die Magusch pflegen ihren Dienern keine Ferien an der See zu finanzieren. Aber woher weißt du soviel darüber?«
Sara wandte ihren Blick für einen Moment ab. »Vannor hat mich jeden Sommer mitgenommen.« Als sie Anvars Gesichtsausdruck sah, wechselte sie schleunigst das Thema. Sie konnte es sich nicht leisten, ihn vor den Kopf zu stoßen. »Jedenfalls«, fügte sie strahlend hinzu, »bin ich ohnehin nutzlos. Ich mag zwar einen Fisch gefangen haben – das ist halt so passiert –, aber ich kann ihn nicht töten. Und was die Zubereitung angeht, nun, dabei wird mir speiübel.«