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»Was? Da hinaufklettern? Das soll wohl ein Witz sein!«

Anvar seufzte. »Na ja, wir können auch an der Küste entlanggehen und dort irgendwo unser nächstes Lager aufschlagen. Die Felsen werden ja irgendwann einmal zu Ende sein.«

»Und in welche Richtung sollen wir gehen?« konterte Sara. »Du weißt ja noch nicht einmal, in welchem Land wir hier sind!«

»Du auch nicht«, gab Anvar gereizt zurück, »und du bist doch weiter herumgekommen als ich, wie du sagst. Warum machst du nicht einen Vorschlag?«

»Du bist vollkommen nutzlos, Anvar! Du weißt überhaupt nichts! Ich wünschte, ich wäre niemals …« Sara brach mitten im Satz ab.

»Du wünschtest, du wärest niemals was?« Anvar überlief bei ihren Worten ein Frösteln, das nichts Gutes verhieß. Aber Sara wandte sich von ihm ab, weigerte sich, mehr zu sagen, und er war nicht willens, sie zu drängen. Innerhalb weniger Minuten war sie eingeschlafen oder tat wenigstens so.

Anvar starrte unglücklich in den Nachthimmel. Die Sterne schienen einem hier näher zu sein; fette Lichter in einem samtenen Baldachin. Welcher Unterschied zum funkelnden, sternenübersäten Himmel seiner nördlichen Heimat! Er kam sich plötzlich verloren und – trotz Saras schlafender Gestalt, die sich an ihn schmiegte – sehr einsam vor. Er fragte sich, wo Aurian wohl sein mochte, und bereute seine verletzenden Worte bitterlich. Sie würde wissen, was jetzt zu tun war. Forral hatte sie gut vorbereitet. Und selbst wenn sie einmal in Verlegenheit kam, dann machte ihr Mut ihren Mangel an Wissen wett. Und doch, so mußte er sich kleinlaut eingestehen, war es gerade dieses an Arroganz grenzende Selbstvertrauen, das ihn manchmal an ihr so geärgert hatte. Das und die Tatsache, daß sie eine Magusch war, der Rasse angehörte, die ihn um seinen Platz in der Welt betrogen hatte.

Er spielte mit dem Dolch, den sie ihm geschenkt hatte, dem Dolch, dessen saubere, scharfe, zweckdienliche Form ihn an seine frühere Besitzerin erinnerte. Wo war sie jetzt, fragte er sich. Wie würde sie zurechtkommen, schwanger, allein, voller Trauer und mit Miathan dicht auf den Fersen? Er begann, sich um sie Sorgen zu machen, und hatte das Gefühl, daß er seiner Verantwortung nicht gerecht geworden war. Aber die Tage des Schreckens und der Flucht hatten Anvar mehr abverlangt, als er ahnte. Lange bevor er Sara wecken konnte, damit sie die Wache übernahm, schlief er über seine Träumereien ein.

Wenn sie gewußt hätten, in welchen Landen sie gestrandet waren und welche Rassen hier zu Hause waren, dann hätten Anvar und Sara auf keinen Fall ein großes Feuer am Strand entzündet, das über See weithin sichtbar war. Wenn ihnen die Gefahr bewußt gewesen wäre, dann hätten sie sich im Wald versteckt und sorgfältiger Wache gehalten. Aber so lagen sie an ihrem Leuchtfeuer und schliefen den Schlaf der Gerechten. Sie merkten nicht, daß die lange schwarze Galeere auf den Strand zuglitt, und selbst das leichte Knirschen von Stiefeln im Sand und das leise Rascheln, mit dem die stählernen Klingen gezogen wurden, weckten sie nicht. Anvar wurde erst wach, als Hände nach ihm griffen und Saras Schrei die Nacht zerriß. Er wehrte sich heftig, schaffte es einen Augenblick lang hochzukommen und nach Aurians Dolch zu greifen. Aber das Messer war ihm aus der Hand gefallen, während er schlief, und lag jetzt irgendwo im Sand. Er hatte gerade noch Zeit, das Flackern von Fackeln, dunkelhäutige Gesichter und weiße, gebleckte Zähne wahrzunehmen, bevor ihm ein schwerer Schlag auf den Hinterkopf das Bewußtsein raubte.

19

Die Verheerung

Der Leviathan hieß Ithalasa. Da er spürte, wie sehr Aurian einer Erholungspause bedurfte, schlug er ihr vor, sie zu einer geschützten Lagune weiter im Süden zu bringen, wo sein Volk oft Zuflucht suchte.

Auf dem Weg dorthin sah die Magusch die hinter der Küstenlinie verlaufende Felswand immer näher an das Meer herankommen, bis der Fels selbst schließlich eine steile Kliffküste bildete, so daß Aurian von den südlichen Reichen nicht mehr zu Gesicht bekam als eine hoch emporragende Wand scharfkantigen, grauen Gesteins, die grün gesprenkelt war von rauhem, dornigem Buschwerk in ihren vielen Spalten und Klüften. Mitunter wich das Kliff in weitem Bogen zurück und bildete tiefe, geschützte Buchten, aber Ithalasa schwamm immer weiter, ohne sich um die Küste zu seiner Rechten zu kümmern. Ein unverständliches Gemurmel an der äußersten Grenze von Aurians Wahrnehmung verriet Aurian, daß er sich während ihrer Reise mit anderen Walen unterhielt.

Ihr Kopf schmerzte von der blendenden Helligkeit der Sonne, die sich auf dem blauschillernden Wasser spiegelte. Aurian war heißhungrig und fühlte sich hundeelend. Trotz aller Versuche wollte es ihr einfach nicht gelingen, Anvar aus ihren Gedanken zu verbannen. Jedesmal, wenn sie ihre Augen schloß und zu schlafen versuchte, sah sie den unglücklichen Ausdruck seines Gesichtes bei ihrer Trennung am Strand vor sich. Und wenn sie dann drauf und dran war, Ithalasa zu bitten, umzukehren, dann überwältigte sie die Erinnerung daran, was zwischen Anvar, ihr und Sara in der letzten Nacht vorgefallen war, und ihr Ärger wurde aufs neue entfacht. Und wenn sie nicht an Anvar dachte, dann dachte sie an Forral, und das war noch schlimmer.

Weil sie schließlich überhaupt keine Vorstellung mehr hatte, wie sie weiter vorgehen sollte, beschloß sie, sich Ithalasa anzuvertrauen und ihn um Rat zu fragen. Zu ihrer Erleichterung erwies er sich als zugänglich für diesen Vorschlag und gab zu, daß er schon neugierig gewesen sei, die Ursache ihres Kummers und den Grund dafür zu erfahren, warum eine der Magusch sich so weit nach Süden begab.

Ithalasas Reaktion auf Aurians Geschichte war erschreckend. Sie wurde aufs neue völlig durchnäßt, als sein massiver Schwanz erregt auf das Wasser klatschte. »Der Kessel ist gefunden worden? Er ist in schlechte Hände gelangt? Ach, verwünscht sei dieser bittere Tag!« Seine Verzweiflung schlug wie eine Woge über der Magusch zusammen und ertränkte ihr Bewußtsein fast mit seiner Intensität.

»Du weißt von dem Kessel?« fragte sie, während sie mit Mühe auf seinem glitschigen, stampfenden Rücken das Gleichgewicht hielt. Eine dumme Frage, schalt sie sich selbst. Ganz offensichtlich weiß er davon.

»Ja«, erwiderte Ithalasa ernst. »Mein Volk hat in seinem Bewußtsein all die verlorenen Geheimnisse der Verheerung bewahrt. Sie sind unsere Bürde und unsere Sorge. Es wäre das beste, dieser Teil der Vergangenheit wäre vergraben und verloren.«

Er besaß das Wissen. Große Götter, er besaß das Wissen! Der Leviathan hatte die Antworten, nach denen Aurian suchte. Aber sie konnte, ohne daß es dazu weiterer Worte bedurft hätte, spüren, wie sehr es Ithalasa widerstrebte, von diesen Dingen zu sprechen.

Aber sie mußte es dennoch versuchen. »Ich habe Angst, dir Kummer zu machen, Großer, aber willst du mir nicht davon erzählen? Wenn ich dieses Böse bekämpfen will, dann ist meine Unwissenheit eine tödliche Waffe in den Händen meiner Feinde. Und kämpfen muß ich, selbst wenn es mich das Leben kostet. Ich habe geschworen, der Bosheit des Erzmagusch ein Ende zu setzen.«

»Kind, wie könnte ich dir davon erzählen?« Tiefes Bedauern schwang in Ithalasas Gedanken mit. »Ich kann verstehen, daß du gegen dieses Böse ankämpfen mußt, aber alle Rassen des Maguschvolkes haben einst geschworen, dieses gefährliche Wissen niemals wieder aufleben zu lassen, damit es nicht noch einmal eine Verheerung gibt. Ich darf dir nichts davon erzählen. Willst du die Zerstörung der Welt auf deinem und meinem Gewissen haben?«

Aurian seufzte. »Mächtiger, Weiser, ich bin für deine Begriffe sicherlich jung und unerzogen, aber ich weiß um die furchtbare Verantwortung, die auf mir ruht. Ich weiß, welche Verwüstungen ein Krieg zwischen den Magusch auslösen kann. Aber wenn ich in den Besitz der drei verlorenen Waffen gelangen könnte, dann ließe sich Miathan bestimmt unterwerfen, ohne daß allzuviel Schaden entsteht. Ich sage dir offen, daß ich in der Kriegskunst geschult bin. Aber ich wurde von jemandem unterrichtet, der weder für Gewalt noch für Zerstörung etwas übrig hatte. Er war der beste und sanfteste Mann, und das größte von den vielen großen Geschenken, die ich von ihm erhalten habe, ist der Respekt für unsere Mitgeschöpfe – ganz gleich, welcher Rasse sie angehören – und der Abscheu vor sinnlosem Töten und Blutvergießen.«