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Der Leviathan versenkte sich für lange Zeit in seine Gedanken, aber er schirmte sie von der Magusch ab.

Schließlich seufzte er; ein mächtiger Seufzer, der eine funkelnde, in allen Regenbogenfarben irisierende Fontäne aus seinem Blasloch schießen ließ. »Kleine – laß uns einmal annehmen, daß du die Waffen findest. Laß uns weiter annehmen, daß du sie benutzt, um den Erzmagusch zu besiegen, und daß du dabei auch die vierte Waffe erlangst. Was würdest du dann tun?«

»Ich würde euch die Waffen geben«, erklärte Aurian ihm, ohne zu zögern. »Dein Volk wäre ein weit besserer Hüter dieser gefährlichen Dinge als meines. Ich würde es dir überlassen, zu entscheiden, ob sie aufbewahrt werden sollen, versteckt oder zerstört. Ich bin nicht auf Macht aus – ich will nur meine Aufgabe erfüllen.«

»Bist du dir dessen sicher?« Ithalasas Gedanken verrieten Überraschung.

»Ich schwöre es dir. Großer, du darfst mich lesen, wenn du möchtest, damit du dir sicher sein kannst, daß ich die Wahrheit sage.«

»Du würdest dich dem unterziehen?« Der Leviathan klang erstaunt. Das Lesen war eine Prozedur, der sich nur ganz selten jemand freiwillig unterzog. Sie ging viel tiefer und war viel intensiver als die Prüfung der Wahrheit; es hieß, daß sie alle Tiefen der innersten Seele eines Lebewesens freilegte – und daß sie dem, der es gekonnt anstellte, die Möglichkeit gefährlicher Beeinflussung und anderen Mißbrauchs eröffnete. Schon mit dem bloßen Vorschlag hatte Aurian Ithalasa ihr absolutes Vertrauen ausgesprochen.

»Ja, das würde ich – und ich werde es«, sagte sie bestimmt.

»Also gut, Kleine. Ich nehme dein Angebot an – ■ es ist mir eine Ehre.«

Aurian nahm all ihren Mut zusammen und öffnete sich Ithalasas forschenden Gedanken.

Es war schlimmer, als sie es sich in ihren schlimmsten Vorstellungen hätte ausdenken können – ein zerreißendes Eindringen, viel tiefer und in viel intimere Bereiche vorstoßend, als es eine körperliche Vergewaltigung jemals sein konnte. Der Leviathan streifte durch ihr Bewußtsein, durch ihren Willen, wühlte den untersten Schlick und Bodensatz ihrer Seele auf, all das, was wertlos und niedrig war, all die Schwächen des Stolzes und Temperaments und der Sturheit, die so sehr ein Teil von Aurians Persönlichkeit waren. All das, was sie verleugnet, verdrängt oder vor sich selbst sicher versteckt hatte, wurde aufgerührt wie eine Schlammwolke vom Grunde eines klaren Baches.

Als es vorbei war, lag sie verkrampft und zusammengerollt auf dem höckerigen Rücken des Behemoth. Ihr war übel, und sie zitterte.

»Kleine, entspann dich.« Die Worte des Leviathan breiteten sich wie ein lindernder Balsam über Aurians wundes, verletztes Bewußtsein aus. »Nicht einmal die Götter selbst, so heißt es, waren vollkommen. Es ist nicht angenehm, sich seinen eigenen Fehlern und Schwächen zu stellen, aber das allein ist der Weg zur wahren Weisheit – den deswegen nur so wenige gehen. Du hast viel Gutes in dir – viel Ehrlichkeit, Ehrgefühl und Mut und dazu ein Herz voller Liebe –, welches das Schlechte bei weitem überwiegt. Halte beide Seiten von dir im Gleichgewicht, Tochter, dann wird alles gut sein.«

Tochter – er hatte sie Tochter genannt! Aurians Elend wurde durch eine heftige Woge von Liebe und Stolz gemildert. Sie versuchte, ihre Selbstkontrolle wiederherzustellen, wenigstens soweit, um ihn zu fragen, wie seine Antwort lautete, aber er ersparte ihr die Mühe.

»Was mich anbelangt – du hast mein Vertrauen«, erklärte er ihr, »und ich stehe tief in deiner Schuld, weil du mein Kind gerettet hast. Aber ich darf diese Entscheidung nicht allein treffen. Wir sind jetzt gleich an der Lagune – sie liegt hinter dieser hohen Landspitze, die dort aus dem Meer ragt. Dort bist du in Sicherheit und kannst etwas essen und dich erholen. Während du schläfst, werde ich mich mit meinem Volk beraten und deine Bitte vortragen, denn diese Entscheidung kann nur von unserem ganzen Volk getroffen werden. «

Aurian ließ die Hoffnung sinken. Nach allem, was sie durchgemacht hatte … Aber sie wußte, daß Ithalasa alles getan hatte, was in seiner Macht stand, und daß es falsch wäre, ihn weiter zu bedrängen. Es kostete sie große Anstrengung, ihm gebührend zu danken. Der Leviathan antwortete mit einem Lächeln; er wußte also ihre Anstrengungen zu würdigen. »Siehst du?« sagte er ihr. »Deine Weisheit nimmt bereits zu.«

Die Lagune war fast kreisrund; zum Ozean hin schützten sie vorgelagerte Riffe, zum Land hin hohe, steilwandige, unbezwingbare Klippen. Ein sichererer Platz ließ sich nicht denken – er war nur übers Meer oder durch die Luft erreichbar.

Aurian schwamm bis an den steinigen Strand, der sich am äußeren Rand der Lagune entlangzog, und Ithalasa trieb ihr einige Fische zusammen, die sie im flachen Wasser fangen konnte. Sie war dankbar für seine Hilfe, denn sie wußte, daß sie das allein nicht geschafft hätte. Während sie sich Feuer machte, verabschiedete sich der Leviathan und versprach, so schnell wie möglich zurückzukommen.

Die Magusch war todmüde. Sie aß ihren Fisch im Halbschlaf, und nachdem sie von einer Quelle getrunken hatte, legte sie sich zum Schlafen hin. Sie überließ es der Sonne, ihr die Kleider auf dem Körper zu trocknen, und schlief sofort ein. Und während sie schlief, träumte sie – einen wundersamen Traum der Vergangenheit aus der Morgendämmerung ihrer eigenen Welt.

Das Volk der Magusch war zahlreich und mächtig und beherrschte die Welt. Es herrschte über das Wetter und die Elemente, über die Meere und die Feldfrüchte, über die Vögel und die wilden Tiere und über die sterblichen Menschen, die keine Magie besaßen und kaum mehr als Tiere, Diener und Sklaven der Magusch waren. Alle Länder und alle Meere wurden von den vier großen Rassen des Maguschvolkes bewohnt, und jede Rasse kontrollierte einen der vier elementaren Bereiche der Magie.

Die menschlichen Magusch oder Zauberer, wie sie sich damals selbst nannten, herrschten über das Element der Erde. Sie konnten mit allen Geschöpfen der Erde sprechen und mit den Bäumen und allem, das auf der Erde wuchs. Die besten unter ihnen fanden sogar Zugang zu den Steinen und Felsen der Gebirge. Ihre Aufgabe war es, allerorten für Fruchtbarkeit zu sorgen und alles, was auf der Erde lebte und wuchs, im Gleichgewicht zu halten, so daß alles blühte und gedieh und seinen ihm zustehenden Platz im miteinander verwobenen Netz des Lebens einnehmen konnte.

Ihre Brüder, die Geflügelten Magusch oder Himmelsvolk, wie sie sich zu nennen pflegten, beherrschten das Element der Luft. Sie bewohnten horstähnliche Städte auf den luftigsten Höhen der höchsten Gebirge und waren verantwortlich für die Vögel und alle anderen Geschöpfe, die fliegen. Ihre Kräfte steuerten die mächtigen Winde und Stürme, die mit ihren Regenwolken die Erde fruchtbar machten.

Bei den wichtigen Aufgaben, die das Wetter betrafen, arbeiteten sie mit den Meistern des Wasserelementes zusammen – den Magusch vom Geschlecht der Leviathane, denen alle Gewässer der Welt mit allen Lebewesen, die darin wohnten, Untertan waren. Sie beherrschten die Meere, die Flüsse und Seen und – mit der Magie der Kälte, bevor diese zum Bösen gewendet wurde – die großen Eiskappen im äußersten Norden und Süden der Erde. Sie spendeten den Regen, der von den Winden der Himmelsleute dahin gebracht wurde, wo er Not tat. Weil die Leviathane im Wasser lebten, konnte ihre Gestalt nicht menschlich sein. Da das Wasser ihr Gewicht trug, entwickelten einige von ihnen eine ungeheure Größe. Sie waren stromlinienförmig und langgestreckt, mit gewaltigen, gebogenen Fluken, mit denen sie steuerten, und mit flachen, waagerechten Schwänzen, mit denen sie eine große Geschwindigkeit erreichten. Aber sie waren warmblütig und luftatmend und brachten ihre Jungen lebend zur Welt. Es hieß, sie seien die älteste Rasse des Maguschvolkes, und die anderen stammten von ihnen ab. Auf jeden Fall besaßen sie von allen die tiefste Weisheit und die innigste Freude am Leben.