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Das Buch

Eine Serie bizarrer Selbstmorde und unerklärlicher Todesfälle stellt die Berliner Kriminalpolizei vor ein Rätsel. Einziger Anhaltspunkt für die Ermittlungen ist der an jedem Tatort wiederkehrende mysteriöse Schriftzug: AZRAEL. Alle Spuren führen in die Pharmawerke des Dr. Sillmann, und die Nachforschungen ergeben, daß dort vor einigen Jahren Drogenexperimente durchgeführt wurden, deren katastrophale Folgen man vor der Öffentlichkeit geheimhielt. Aber was hat das alles mit AZRAEL, dem »Todesengel«, zu tun? Mittlerweile wird Mark, der Sohn von Sillmann, in Alpträumen von AZRAEL verfolgt. In seinen Angstvisionen sieht er immer wieder den Todesengel und kann doch sein Gesicht nicht erkennen. Mark spürt, daß hinter den Selbstmorden und seinen eigenen Horrorträumen etwas Mysteriöses steht - eine schreckliche Macht, der er schon einmal begegnet ist, damals vor sechs Jahren, als seine Mutter in die Nervenklinik kam und etwas geschah, an das er sich nicht mehr erinnern kann. Das Geheimnis von AZRAEL muß so schnell wie möglich gelöst werden, um dem Schrecken Einhalt zu gebieten - denn schon nimmt auch einer der Ermittlungsbeamten aus den Augenwinkeln einen dunklen Schatten wahr, der ihn verfolgt... Hohlbeins Roman ist ein nicht enden wollender Alptraum, in dem es um Leben und Tod geht. Ein erzählerisches Meisterwerk, das den Leser unerbittlich in eine Welt des Unbegreiflichen und des Grauens hineinzieht, in der die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits verschwimmen.

Der Autor

Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren. Seit er 1982 gemeinsam mit seiner Frau den Roman Märchenmond veröffentlichte, arbeitet er hauptberuflich als Schriftsteller. Mit seinen zahlreichen fantastischen Romanen hat er sich seither eine große Fangemeinde erobert. Im Wilhelm Heyne Verlag liegen bereits vor: Das Druidentor (01/9536), Das Netz (01/6874).

1. Kapitel

Artner nannte es nur das Haus der Pein. Es hieß nicht wirklich so. Auf dem längst grün gewordenen Kupferschild, das, von zwei Barockengeln getragen, über dem Eingang hing, stand ein anderer Name, und wiederum ein anderer auf dem sorgsam polierten Messingschildchen neben der Tür. Unter wieder einem anderen war es bei den Menschen in der näheren Umgebung bekannt. Und früher hatte es noch andere Bezeichnungen getragen, Namen - mit oder ohne besondere Bedeutungen -, die Geschichten erzählten und düstere Versprechungen beinhalteten. Das Haus war im Laufe seiner langen, bewegten Geschichte unter vielen Namen gefürchtet worden, aber für Artner war und blieb es: das Haus der Pein. Es hatte diesen Namen nur für ihn, und er hütete ihn wie ein kostbares Geheimnis. Niemals hätte er ihn in Gegenwart anderer benutzt, obwohl er schon ähnliche Bezeichnungen gehört hatte: Haus des Schreckens, Haus der Tränen, Haus der Schmerzen, Haus des Todes. Sie alle stimmten, denn es hatte von alledem mehr als genug gesehen; seine Mauern hatten die Tränen Zahlloser getrunken, seine Wände die Schreie Ungezählter erstickt, seine Luft den Schmerz so vieler geatmet, und es hätte noch unzählige andere, zutreffendere Bezeichnungen für das große Gebäude gegeben, und jede einzelne wäre richtig gewesen. Obwohl dieses Haus von Anfang an nur einem einzigen Zweck gedient hatte, nämlich jenen, die es betraten, zu helfen und ihren Schmerz zu lindern, hatte es doch unendlich viel von genau diesem Schmerz gesehen. Und verursacht.

Im Mittelalter, als es errichtet worden war, war es ein Kloster gewesen. Aber nicht lange. Irgendeiner der ebenso zahl - wie sinnlosen Kriege, die das Land mit der gleichen Regelmäßigkeit wie Jahreszeiten, Naturkatastrophen und Hungersnöte heimsuchten, mußte die frommen Männer vertrieben haben, kaum daß sie mit ihrer Hände Arbeit diese wehrhaften Mauern aufgerichtet hatten. Und für eine noch kürzere Zeit hatte es als Festung und Gefängnis gedient. Das Blut derer, die es errichtet hatten, war vom Blut der Gefangenen fortgespült worden und nicht lange danach von dem ihrer Wärter. Danach waren wieder fromme Männer gekommen, doch diesmal nicht nur, um zu beten. Kriege und Seuchen forderten viele Opfer in jenen Tagen, und das Kloster war zu einem Ort geworden, an dem man sich um diese Opfer kümmerte. Wieder waren es Blut und Schreie gewesen, die seine Mauern färbten und seine Luft tränkten, und daran hatte sich bis heute nicht viel geändert - das Gebäude hatte als Hospiz gedient, später, in einem moderneren und viel effektiveren Krieg, als Militärkrankenhaus, und für lange Zeit als Hospital unter kirchlicher Leitung, bis es schließlich in die Obhut der Stiftung übergeben worden war.

Geändert hatte sich nichts. Die Methoden waren feiner geworden, die Schreie nicht mehr ganz so laut, und das Blut floß nicht mehr ganz so reichlich. Und trotzdem hatte sich Artner schon mehr als einmal die Frage gestellt, ob der einzige - der wirkliche - Daseinszweck dieses Hauses vielleicht nicht nur der war, den Menschen ihre Hilflosigkeit vor Augen zu führen und ihnen klarzumachen, daß, was sie taten, zum Scheitern verurteilt worden war, noch ehe sie es begannen. Sie waren hier - er war hier -, um zu helfen, doch manchmal wunderte er sich, ob seine Hilfe nicht zumeist nur daraus bestand, alten Schmerz gegen neuen zu tauschen. Wunden zu schließen, indem er größere darüber fügte, und bekannte Qual gegen neue, unbekannte zu wechseln.

Oh, sie hatten Erfolge! Er war ein bekannter Arzt, eine Koryphäe auf seinem Gebiet, dessen Krankenblätter, die er mit dem Stempel ›Geheilt‹ zu den Akten gelegt hatte, ganze Schränke füllten. Und doch - stets wenn er hierher kam, in diesen ganz speziellen Trakt - fragte er sich, ob er auch zu Recht berühmt war, und ob geheilt auch wirklich immer geholfen hieß.

Was unterschied sie eigentlich wirklich von jenen, die vor einem halben Jahrtausend hier gewesen waren und auf ihre Weise versucht hatten, den Leidenden zu helfen? Sicher, ihre Werkzeuge waren feiner geworden, ihre Methoden subtiler, ihre Therapien erfolgreicher. Statt Knochensägen benutzten sie Laserskalpelle, statt Aderlässen winzige Mengen farbloser Flüssigkeiten, die auf Glaskolben aufgezogen waren, und selbst die brutalen Elektroschocks des vergangenen Jahrzehnts waren durch einen kaum noch spürbaren Stich in eine Vene ersetzt worden. Nur fragte er sich manchmal, ob sie ihren alten Feind, die Pein, wirklich besiegt - oder vielleicht vielmehr nur dafür gesorgt hatten, daß sie die Schreie der Gequälten nicht mehr hörten.

Der Aufzug hielt mit einem kaum spürbaren Ruck an, und Artner zwängte sich schräg gehend durch die Tür, deren Hälften wie üblich mit enervierender Langsamkeit auseinanderglitten. Das taten sie nur hier unten, und der Mechaniker der Aufzugsfirma hatte es schon vor drei Jahren aufgegeben, nach der Ursache dafür suchen zu wollen. Artner kannte sie. Es war der gleiche Grund, weswegen es hier unten immer ein wenig muffig roch und feucht war, weswegen die Wände, obwohl in freundlichen Pastelltönen gestrichen, trotzdem nichts anderes als ein finsteres Gewölbe waren, und weswegen es hier niemals richtig hell wurde, allen Neonbatterien und Halogenstrahlern zum Hohn. Dieser spezielle Trakt lag anderthalb Stockwerke unter den Kellern und zweieinhalb Stockwerke unter der Straße, und heute wie damals war es ein Ort, an dem weder die Zeit noch irgend etwas, was Menschen taten, wirklich zählte. Heute wie damals enthielt er einige wenige Räume, die den allersichersten Teil dieses Gebäudes darstellten: jene Zellen, in denen die Hoffnungslosen untergebracht waren, die Unheilbaren und gefährlich Gewalttätigen, denen man nur eine einzige Hilfe angedeihen lassen konnte; eine Hilfe, die darin bestand, sie vor sich selbst und davor zu schützen, anderen Schaden zuzufügen. Hier wurden ihm die Grenzen seines Könnens vor Augen geführt, vielleicht die absolute Grenze, die niemals überschritten werden konnte - vielleicht auch nicht sollte.