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»Sillmann?« Sendigs Stimme riß ihn endgültig wieder in die Wirklichkeit zurück. Er war an ihm vorbeigetreten, aber nur einen einzigen Schritt, ehe er wieder stehengeblieben war. Seine Stimme hatte einen hohlen Klang, den Bremer im ersten Moment auf die Akustik des Kellerraumes schob. Dann wurde ihm klar, daß es pures Entsetzen war, was er darin hörte.

Außer den vier Toten gab es noch eine weitere Gestalt im Raum. Bremer konnte nur ihren Rücken erkennen, aber er hätte auch ohne Sendigs Worte gewußt, daß es Sillmann war. Irgend etwas ging von diesem Mann aus, das ihn unverwechselbar machte, selbst wenn man sein Gesicht nicht sah.

Sillmann drehte sich schwerfällig herum. Er brauchte mehrere Sekunden für diese einfache Bewegung, und Bremer hatte den Eindruck, daß sie seine Kräfte fast überstieg. Sein Gesicht war grau, und in seinen Augen glomm eine Furcht, die beinahe so schlimm war wie die des Mannes, der drüben an der Wand hockte. Er trug einen teuren Kaschmirmantel, in dessen rechter Tasche sich vier kleine schwarze Löcher mit verbrannten Rändern befanden. Die linke Hand hatte er in der Manteltasche, in der anderen hielt er ein großformatiges Buch mit dunkelbraunem Ledereinband.

Es schien ihn Mühe zu kosten, Sendig zu erkennen. Einige Sekunden lang starrte er ihn verständnislos an, dann löste sich sein Blick von ihm, irrte suchend durch den Raum und blieb schließlich auf Marks Gesicht hängen. Irgend etwas geschah hinter seiner Stirn, das konnte Bremer deutlich sehen. Er wußte nicht, was, aber es war nichts Gutes.

Der Junge stöhnte leise, als hätte er das Wort verstanden und versuchte darauf zu antworten - was Bremer allerdings bezweifelte. Seit sie den Keller betreten hatten, hatte Mark kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben, aber er konnte durch den Stoff seiner Kleidung hindurch spüren, wie schnell sein Puls hämmerte. Trotzdem bewegte er sich jetzt wieder. Er versuchte den Kopf zu heben und die Augen zu öffnen, hatte aber zu beidem nicht mehr die Kraft.

Bremer sah zum Eingang zurück. Der schwarze Engel hatte sie nicht verfolgt, aber er wußte, daß er noch irgendwo dort draußen stand und wartete. Vielleicht darauf, daß Mark endgültig das Bewußtsein verlor. Sillmann machte einen schwerfälligen Schritt, und Sendig hob seine Waffe.

»Bleiben Sie stehen!« sagte er.

Sillmann gehorchte tatsächlich, aber erst nach einem weiteren Schritt. Er sah nicht einmal in Sendigs Richtung, sondern starrte nur seinen Sohn an. »Was...was ist mit ihm?« fragte er leise. »Was haben Sie mit ihm -«

»Gar nichts«, unterbrach ihn Sendig. »Das haben Sie ihm ganz allein angetan. Sie sollen stehenbleiben, habe ich gesagt!«

Sillmann hatte einen weiteren Schritt gemacht und blieb jetzt wieder stehen. Zum ersten Mal überhaupt schien er die Waffe in Sendigs Hand zu bemerken. Er lächelte. »Und nehmen Sie die Hand aus der Tasche!« verlangte Sendig.

Sillmann tat nichts dergleichen. Statt dessen wandte er den Kopf und sah die zusammengekauerte Gestalt an der Wand neben sich an, dann die drei Toten. Sein Gesicht blieb ausdruckslos. »Haben Sie sie erschossen?« fragte Sendig.

Sillmann nickte. Er atmete hörbar ein, und Bremer konnte ihm regelrecht ansehen, wie seine Gedanken ein kleines Stück weit in die Realität zurückfanden. »Ja«, sagte er, ohne irgendein hörbares Gefühl in der Stimme. Dann lachte er leise.

»Wollen Sie mich deswegen verhaften?«

Sendig schnaubte. »Wenn Sie es nicht getan hätten, hätte ich es getan«, sagte er kalt. »Ich habe nicht vor, Sie zu verhaften, Sillmann. Ich habe vor, Sie zu töten.« Er richtete die Waffe direkt auf Sillmanns Gesicht, und Bremer hielt instinktiv den Atem an, als sich sein Finger um den Abzug krümmte.

51. Kapitel

Haymar hob geblendet die Hand über die Augen, als das Pförtnerhäuschen explodierte. Er hatte alles genau gesehen, obwohl die gesamte Katastrophe weniger als zwei Sekunden in Anspruch genommen hatte - der Wagen war plötzlich ins Schleudern gekommen, hatte sich anderthalbmal um seine eigene Achse gedreht und dann die Pförtnerloge so mühelos zertrümmert wie ein Panzer, der eine Campingtoilette plattwalzte. Das allein hätten Morell und sein Begleiter noch gut überleben können - die Wagen, die Haymar und seine Männer fuhren, waren gut genug gepanzert, um noch eine ganze Menge mehr auszuhalten -, aber dann explodierte der Wagen plötzlich und mit unvorstellbarer Gewalt, als hätte ihn etwas gesprengt, das sehr viel mächtiger war als die Wucht der hundert Liter Benzin im Tank. Selbst Haymar und die beiden anderen Agenten spürten noch die Hitzewelle der Explosion, obwohl sie mindestens dreißig Meter entfernt waren.

»Ach du Scheiße!« entfuhr es Andres. Er war hinter Haymar halb aus dem Wagen gestiegen und dann mitten in der Bewegung erstarrt, als die Explosion erfolgte. »Was ist denn da los?« Lech, der auf der anderen Seite aus dem Wagen gesprungen war und seinem Ruf, schießwütig zu sein, wieder einmal alle Ehre machte, indem er bereits seine MPi in Händen hielt und den Sicherungshebel herumlegte, sagte gar nichts, sondern starrte nur aus schreckgeweiteten Augen auf die lodernde Feuersäule, die sich neben dem Tor in den Himmel hinaufwälzte. Keiner von ihnen machte auch nur eine Bewegung, um zurückzulaufen. Man mußte kein Spezialist in solchen Dingen sein, um zu wissen, daß dort drüben jede Hilfe zu spät kam. Morell, Zöhler und der Pförtner waren tot.

»Dieser Idiot!« sagte Andres mit Nachdruck. »Ich hab' immer schon gesagt, daß er ein beschissener Autofahrer ist!«

Haymar schwieg dazu. Im Moment war es ihm nur recht, wenn Andres glaubte, daß Morell einfach einen Fehler gemacht oder die Gewalt über den Wagen verloren hätte. Er wußte es besser. Er wußte nicht, was dort drüben passiert war, aber er dachte an Brauss' augenloses Gesicht und das Ding im Fernglas und an zwei weitere ausgebrannte Wagen, drüben am anderen Ende der Stadt, und plötzlich hatte er Angst. Worauf hatten sie sich da eingelassen?

Er verscheuchte den Gedanken, beugte sich noch einmal in den Wagen hinein und nahm eine Maschinenpistole aus dem Geheimfach unter dem Rücksitz. Anders als Lech wählte er keine der kleinen UZIs, die zu ihrer Standardausrüstung gehörten, sondern ein größeres Modell, klobiger, schwer zu handhaben und lauter, aber auch mit wesentlich mehr Durchschlagskraft und einem größeren Magazin. Er hatte das Gefühl, sie zu brauchen.

Während er sich bewaffnete, hatte Lech die beiden ineinandergekeilten Wagen umkreist und die Beifahrertür des demolierten Mercedes aufgerissen. Er stieß einen Fluch aus, beugte sich vor und begann einen reglosen Körper aus dem Wagen zu ziehen. Haymar und Andres beeilten sich, zu ihm zu kommen, aber Haymar versäumte es auch nicht, einen raschen Blick ins Innere des Krankenwagens zu werfen. Er hatte nicht vor, sich ein zweites Mal übertölpeln zu lassen.

Der Krankenwagen war leer, und als er als letzter auf der anderen Seite ankam und sah, wen Lech da aus den Überresten von Bergers Wagen herausgezerrt hatte, fluchte Haymar erneut, und diesmal sehr viel lauter. Es war Olbrich, einer von Bergers Leibwächtern. Einer seiner Ex-Leibwächter, genauer gesagt, denn jemand hatte ihm säuberlich die Kehle durchgeschnitten.

»Verdammte Sauerei!« fluchte Lech. Er fingerte nervös an seiner MPi herum. »Was geht hier vor.«

»Der Junge«, sagte Haymar düster. »Das war der Junge. Oder diese verdammten Bullen.«

Lech blickte ihn zweifelnd an. Er war zwar ein Hitzkopf, aber das bedeutete schließlich nicht, daß er auch dumm war. »Irgendwas stimmt hier doch nicht«, sagte er. »Verdammt, was geht hier überhaupt vor? Ich denke, wir haben es mit zwei Polizisten und einem dummen Jungen zu tun? Das hier waren Profis!«