Der Schrank war fast leer: ein schmutziges Glas, eine noch in Cellophan eingepackte Zahnbürste und ein halb aufgebrauchtes Röhrchen Thomapyrin. Löbach hatte versäumt, auch das Innere des Schrankes schwarz anzumalen, und auf dem weißen Kunststoff war eine mehrere Millimeter dicke Staubschicht zu erkennen. Es mußte Monate her sein, daß dieser Schrank das letzte Mal geöffnet worden war.
Sendig musterte das Innere des Schränkchens erstaunlich lange und erstaunlich ausgiebig, ehe er das Röhrchen mit Schmerztabletten herausnahm. Er schraubte es auf, schüttete sämtliche Tabletten auf seine Handfläche und berührte jede einzelne mit der Zungenspitze, als wollte er sich persönlich davon überzeugen, daß sie auch wirklich nichts anderes als ein harmloses Schmerzmittel enthielten. Ebenso sorgfältig praktizierte er die Tabletten wieder in das Kunststoffröhrchen zurück und ließ es dann in seiner Manteltasche verschwinden. Bremer blickte fragend, aber Sendig machte sich nicht die Mühe, sein sonderbares Verhalten irgendwie zu erklären.
Er versuchte auch die anderen beiden Türen zu öffnen, aber es ging nicht. Sie waren mit Farbe verklebt, dasselbe galt auch für den Wasserhahn darunter; ebenso übrigens wie für die Dusche und die Armaturen der Badewanne.
»Scheint, als hätte er sich auch nicht mehr gewaschen«, sagte Sendig kopfschüttelnd. »Völlig plemplem, wenn Sie mich fragen. Ich verstehe das nicht... Sie sagen, den Nachbarn ist nichts an ihm aufgefallen?«
»Nichts Besonderes«, antwortete Bremer. »Außer eben, daß er ein ziemlicher Eigenbrötler war.«
»Paranoid trifft die Sache wohl eher«, sagte Sendig. »Sehen Sie sich nur diese Tür draußen an. Was ich nur nicht verstehe, ist... das hier.« Er ließ seine Hände in einer flatternden Bewegung kreisen. »Ich meine, daß... daß sich jemand bedroht fühlt, kommt vor. Aber warum verwandelt er seine eigene Wohnung in eine Gruft?« Er seufzte. »Sehen wir uns den Rest an. Und versuchen Sie, irgendwo Licht aufzutreiben. Ich komme mir allmählich vor wie lebendig begraben.«
Sie verließen das, was einmal ein Badezimmer gewesen war, und Bremer durchsuchte das Apartment nach einem weiteren Lichtschalter oder einer Lampe, ohne allerdings fündig zu werden. Wie im Bad waren die meisten Birnchen aus der Decke herausgezogen worden. Er fand auf dem nur spärlich bestückten Bücherregal hinter dem Fernseher zwar eine Leselampe, die allerdings nicht mehr funktionstüchtig war: Löbach hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Birne herauszuschrauben. Er hatte sie kurzerhand übermalt.
Nur aus Neugier versuchte Bremer, die Titel der wenigen Bücher zu entziffern. Soweit er es in dem kaum vorhandenen Licht erkennen konnte, handelte es sich ausnahmslos um Bücher, die sich mit religiösen oder esoterischen Themen befaßten. Die Titel der wenigen CDs, die er fand, paßten dazu. Es war schwere, zum größten Teil schwermütige Klassik: Wagner, Mussorgski, Grieg. Er hörte ein Geräusch, und als er aufsah, glaubte er eine Bewegung aus den Augenwinkeln heraus zu bemerken. Ein Schatten, der sich - draußen auf dem Balkon? - bewegte. Aber noch bevor er sich ganz herumdrehen konnte, hörte er Sendigs Stimme, die hinter der Tür auf der anderen Seite des Raumes erklang.
»Bremer! Kommen Sie her!«
Er hatte nicht einmal sehr laut gesprochen, aber das war auch nicht nötig. In seiner Stimme war etwas, das Bremer alarmierte. Er vergaß augenblicklich den Schatten, den er sich wahrscheinlich sowieso nur eingebildet hatte. So rasch er gerade noch konnte, ohne zu rennen, folgte er Sendig - und prallte erschrocken unter der Tür zurück.
Sendig stand in einer kleinen, aber komplett eingerichteten Küche, die sich nicht nur in ebenso verwahrlostem Zustand befand wie der Rest des Apartments, sondern ebenfalls komplett schwarz angemalt worden war. Angefangen von den Möbeln bis hin zu den Fliesen über der Arbeitsplatte. Das einzige, was nicht schwarz war, waren die Kochplatten - und die krakeligen, zwanzig Zentimeter großen Druckbuchstaben, die jemand in stumpfem Rot an die Wand neben der Tür gemalt hatte.
»O verdammt!« murmelte er. »Was ist das?« Er wollte nähertreten, doch Sendig hob rasch die Hand und hielt ihn zurück.
»Rühren Sie nichts an«, sagte er. »Wir warten auf die Spurensicherung.«
Bremer fand diese Bemerkung ebenso überflüssig wie die von vorhin. Er hatte nicht vorgehabt, irgend etwas anzurühren, schließlich war er lange genug Polizist. Aber er schluckte seinen Ärger herunter und beugte sich statt dessen nur zur Seite, um an Sendig vorbei einen genaueren Blick auf die Schrift an der Wand zu werfen.
»Das... das ist Blut«, murmelte Sendig. Ungeachtet dessen, was er selbst gerade zweimal gesagt hatte, hob er die Hand und tastete mit den Fingerspitzen über die Schrift. Sie hinterließen kleine, runde Flecken in den verschmierten Buchstaben, in denen man bei genauerem Hinsehen sogar noch seine Fingerabdrücke erkennen konnte, und Bremer hatte das absurde Gefühl, daß er dadurch irgendwie zum Mittäter wurde. Er rieb die Finger aneinander, roch daran und verzog angeekelt das Gesicht, ehe er noch einmal und mit größerem Nachdruck sagte: »Das ist Blut!«
Bremer kämpfte tapfer weiter gegen das flaue Gefühl, das von seinem Magen Besitz ergriffen hatte und seine Kehle hinaufzukriechen versuchte, und zwang sich, die Schrift genauer zu betrachten. Die Buchstaben waren verschmiert und offensichtlich mit zitternden Fingern geschrieben, so daß er sie kaum identifizieren konnte.
»A... Z... R... A... E... L«, buchstabierte Sendig. »Azrael. Was bedeutet das?«
Bremer konnte nur mit den Schultern zucken. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Aber...«
Sendig sah ihn fragend an. »Aber?«
»Ich bin nicht sicher«, antwortete Bremer, »aber der Tote - Löbach... Auf seiner Brust waren Schnittwunden. Der Arzt hat mich darauf aufmerksam gemacht. Es sah fast aus, als hätte er versucht, sich etwas in die Brust zu ritzen. Ich konnte es nicht entziffern, aber es könnte dasselbe Wort gewesen sein.«
»Azrael...« Sendig wandte seine Aufmerksamkeit wieder den blutigen Buchstaben auf der Wand zu und schüttelte abermals den Kopf, »Irgendwoher kenne ich dieses Wort. Ich weiß nicht mehr genau, woher, aber ich habe es schon einmal gehört.«
Bremer erging es übrigens ebenso. Aber auch er konnte nicht sagen, wieso ihm dieser Begriff bekannt vorkam. Er wollte auch nicht darüber nachdenken. Er fühlte sich... wie erschlagen. Bisher war alles, was sie gefunden hatten, bizarr und vielleicht ein bißchen unheimlich gewesen, aber ihre grausige Entdeckung rückte die ganze Geschichte in ein vielleicht nicht neues, aber doch anderes Licht. Sie gab dem Entsetzen über Löbachs Tat eine Tiefe, die es bisher trotz allem nicht gehabt hatte. Ganz plötzlich und nur für ein paar Sekunden, in dieser Zeit aber sehr intensiv, haßte er Löbach. Er hatte diesen Mann nicht einmal gekannt, und er verdiente wohl sehr viel eher sein Mitleid als seinen Zorn, aber er hatte ihn gezwungen, sich einer Facette der menschlichen Psyche zu stellen, die er in dieser Ausprägung bisher weder gekannt hatte, noch jemals hatte kennenlernen wollen. Und dafür haßte er ihn. Dann wurde ihm klar, wie ungerecht dieses Gefühl war, und sein schlechtes Gewissen nahm die Stelle des Hasses ein, allerdings war es auch nicht viel leichter zu ertragen.
Vielleicht half ja Normalität, um dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Mit einer bewußten Anstrengung löste er seinen Blick von der Blutschrift an der Wand und sah sich aufmerksam in der kleinen Küche um. Er wurde fast sofort fündig. Wäre er nicht so schockiert gewesen, dann hätte er es wohl noch viel eher bemerkt.
»Dort!« Bremer deutete auf ein blutiges Steakmesser, das auf der Arbeitsplatte lag. Eine dünne rote Spur führte von dort aus zur Wand unter der Schrift und in der anderen Richtung hinaus ins Wohnzimmer. »Damit hat er es wohl getan.«