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»Tut mir leid«, sagte er.

»Aber was ist denn los?« fragte Bremer. Er rieb sich gedankenverloren das Handgelenk. Sendig hatte mit aller Gewalt zugegriffen. Er konnte jeden einzelnen seiner Finger noch immer auf der Haut spüren. »Was ist das für ein Zeug?«

»Woher soll ich das wissen?« fragte Sendig mit einer Stimme, in der schon wieder eine deutliche Spur der gewohnten Unfreundlichkeit mitschwang. »Ich wollte nicht, daß Sie es anfassen, das ist alles. Haben Sie Handschuhe dabei?«

Bremer zog ein Paar zusammengerollter Einmalhandschuhe aus der Jackentasche und reichte Sendig unaufgefordert noch eine Plastiktüte mit Clipverschluß. Sendig praktizierte die kleinen Kunststoffbeutelchen so vorsichtig hinein, daß er seiner Behauptung, nichts über ihren Inhalt zu wissen, damit auch noch den letzten Rest von Glaubwürdigkeit nahm. Er verschloß die Tüte pedantisch, verstaute sie in der Manteltasche und schob die Kühlschranktür zu, ehe er aufstand.

»Aber Sie wissen nicht, was das für ein Zeug ist, wie?« fragte Bremer spöttisch. Sowohl die Frage als auch erst recht der Ton, in dem er sie stellte, wären unter normalen Umständen eine glatte Unverschämtheit gewesen. Aber das hier war nun einmal nicht normal - und Sendig war entweder viel zu perplex über seinen unerhörten Ton oder selbst zu schockiert, um entsprechend darauf zu reagieren. Er sah Bremer nur einen Moment nachdenklich an, dann sagte er kühclass="underline" »Nein, ich weiß tatsächlich nicht, um welche Substanz es sich handelt, Herr Polizeiobermeister. Ich halte es nur für prinzipiell angeraten, vorsichtig zu sein.«

»Bitte entschuldigen Sie«, sagte Bremer, »ich wollte nicht -«

Sendig winkte ab. »Schon gut. Wir sind wohl beide ein bißchen nervös, schätze ich. Das beste wird sein, wir bringen das Zeug morgen früh ins Labor und überlassen es denen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, die dafür bezahlt werden.«

Bremer sagte nichts mehr. Er gestattete sich nicht einmal, sich zu ärgern. Er war hier mit Sendig zusammen, der wohl nicht ganz umsonst einen gewissen Ruf besaß. Was hatte er erwartet?

6. Kapitel

Er war schließlich doch noch eingenickt und wurde erst wach, als der Zug die Endstation erreichte. Seine vielleicht etwas vorschnell gefaßte Meinung über den Kellner revidierte er in Form eines Zehnmarkscheines, den er als Trinkgeld neben seiner Tasse zurückließ; immerhin hatte der Mann ihn schlafen lassen, obwohl dies der Speisewagen und er gerade zur Frühstückszeit sicher knapp an Plätzen war. Und das war ganz und gar nicht selbstverständlich.

Marks Traum war nicht wiedergekommen, was ihn einigermaßen beruhigte. Es war wohl doch nur ein Traum gewesen, ein ganz besonders scheußlicher Traum vielleicht, aber trotzdem nicht mehr. Was erwartete er nach einer Nacht wie der, die hinter ihm lag? Streß, Aufregung, Furcht, dazu kam, daß er seit annähernd vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte, so daß sein Blutzuckerspiegel gegen Null tendieren mußte... Er hatte sich ja geradezu darauf programmiert, Alpträume zu haben!

Mark verließ als einer der letzten Fahrgäste den Zug und eilte zu den Taxiständen vor dem Bahnhof. Es gab noch einmal eine kurze peinliche Erinnerung an die vergangene Nacht, als er die Frau aus seinem Abteil wiedersah, die behauptet hatte, bei der nächsten Station aussteigen zu müssen. Aber Mark war diplomatisch genug, so zu tun, als erkenne er sie nicht, und sie verlegen genug, das Spiel mitzuspielen und hastig in einem Taxi zu verschwinden. Mark wartete, bis es abgefahren war, ehe er selbst einen zweiten Wagen herbeiwinkte und auf dem Beifahrersitz Platz nahm, sehr zur Verstimmung des Fahrers übrigens, der mit demonstrativ zur Schau getragenem Unmut ein Sammelsurium aus Zeitungen, Papieren, Zigarettenschachteln und einem zerlesenen Stadtplan nach hinten schaufelte, damit er sich setzen konnte.

»Wo soll's hingehen?«

Mark fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen und versuchte einen Moment lang vergeblich, ein Gähnen zu unterdrücken, ehe er seine Adresse nannte - eigentlich aus einem reinen Reflex heraus, nicht weil er wirklich nach Hause wollte. Er hatte Prein zwar versprochen, es zu tun, aber irgendwie hatte er sich die ganze Nacht hindurch erfolgreich davor gedrückt, wirklich darüber nachzudenken. Nach Hause... Was hieß das eigentlich? Die Adresse, die er dem Taxifahrer genannt hatte, war es jedenfalls nicht. Es war ein Haus in einer der vornehmeren Gegenden der Stadt, die Adresse, unter der er gemeldet war und wo er auch ein Zimmer hatte und den allergrößten Teil seines persönlichen Besitzes. Aber sein Zuhause war es nicht. Mark versuchte zwar noch eine Weile, sich gegen die Erkenntnis zu wehren, aber es blieb wohl dabei: Das einzig wirkliche Zuhause, das er in den letzten Jahren gehabt hatte, war das Internat.

»Ich habe es mir überlegt«, sagte er plötzlich. »Fahren Sie raus zum Institut.«

Der Fahrer warf einen schrägen Blick auf das Taxameter, das wunderbarerweise bereits einen Fahrpreis von etwa acht Mark anzeigte, obwohl sie gerade erst losgefahren waren, dann auf seinen Fahrgast und fragte: »Was für ein Institut?«

»Das St.-Eleonor-Stift«, antwortete Mark. »Ich weiß nicht, wie die Straße heißt.«

»Die Klapsmühle, meinen Sie? Kein Problem. Ist aber ein ziemlich weiter Weg. Das wird nicht ganz billig.«

Mark seufzte. Er mußte dringend etwas an seiner Aufmachung ändern. Allmählich wurde es lästig, jedermann und ständig beweisen zu müssen, daß er nicht so war, wie er aussah. Mit einer ärgerlichen Bewegung zog er seine Geldbörse heraus, entnahm ihr einen Fünfziger und reichte ihn dem Fahrer. »Das sollte wohl reichen. Und ich ziehe den Ausdruck Nervenklinik vor.«

Der Mann strich den Geldschein ein und war klug genug, nichts mehr zu sagen, sondern sich zumindest für die nächsten Minuten ganz darauf zu konzentrieren, den Mercedes durch den einsetzenden Berufsverkehr zu manövrieren. Die Anzahl der Wagen, die auf der Straße waren, überraschte Mark. Er wußte, daß die Stadt sich verändert hatte und immer noch veränderte, aber die Schnelligkeit dieses Wandels verblüffte ihn jedesmal. Sein ruppiges Auftreten hatte dafür gesorgt, daß der Fahrer nicht mehr versuchte, Kilometer zu schinden, sondern den kürzesten Weg zu ihrem Ziel einschlug, aber sie kamen trotzdem kaum von der Stelle. Andererseits war er bisher auch noch nie zu dieser Uhrzeit hier angekommen, sondern meistens an einem Samstag- oder Sonntagabend, an dem die Straßen einen radikal anderen Anblick boten. Vielleicht veränderte sich seine Umwelt gar nicht immer schneller, sondern er hatte nur aufgehört, diese Veränderungen wahrzunehmen.

Er sah auf die Uhr. Wenn Prein Wort gehalten hatte, dann wußte sein Vater noch nicht, daß er in der Stadt war, sondern würde es in frühestens zwei oder drei Stunden erfahren. Mark hätte es im Grunde gleich sein können, aber das war es nicht. Wenn sein Vater wußte, daß er in der Stadt war, ohne direkt nach Hause zu kommen, dann würde er auch wissen, wo er war - und das machte einen großen Unterschied. Mark war nicht oft im St.-Eleonor-Stift, aber jedesmal, wenn er es tat, war ihm der Unterschied deutlicher aufgefallen: Irgend etwas war anders, wenn sein Vater wußte, daß er dort war.

Der Verkehr nahm ein wenig ab, als sie aus dem Zentrum heraus waren, und schließlich fuhren sie auf die Stadtautobahn. Zwanzig Minuten später bog das Taxi von der Straße ab und rollte, langsamer werdend, die Zufahrt des Stifts hinauf, um schließlich direkt vor dem Haupteingang zu halten.

Ein banges Gefühl begann sich in Mark breitzumachen. Er fühlte sich nie gut, wenn er hierherkam, das tat niemand. Und es war eine der großen Absurditäten von Orten wie diesem: Sie dienten dem erklärtermaßen einzigen Zweck, Menschen zu helfen und Leid zu lindern, und doch riefen sie bei allen, die sie betraten, die genau gegenteiligen Gefühle wach - nämlich Unwohlsein und Beklemmung, und nur allzuoft Furcht.