»Aber Sie glauben das nicht.« Worauf wollte Sendig hinaus?
»Sagen wir: Man hat mir zu verstehen gegeben, daß ich besser daran täte, es zu glauben. Vor sechs Jahren - und vor knapp zwei Stunden noch einmal.«
»Wie bitte?« entfuhr es Bremer.
Sendig zuckte mit den Schultern und zündete sich schon wieder eine Zigarette an, obwohl er die erste nicht einmal zu einem Drittel aufgeraucht hatte. »Schlechte Nachrichten sprechen sich offenbar wirklich schnell herum«, sagte er paffend. »Man hat mir jedenfalls erneut zu verstehen gegeben, daß die Ermittlungen besser zu dem Ergebnis führen sollten, nach dem gestern alles aussah. Der tragische Selbstmord eines Geistesgestörten.«
»Man?« sagte Bremer betont. »Wer ist man?«
Sendig lächelte dünn und verbarg das Gesicht hinter einer blaugrauen Rauchwolke. »Ich weiß es nicht. Eine Stimme am Telefon, mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«
»Der Sie so einfach gehorchen?«
»Nichts ist einfach, Bremer«, sagte Sendig. »Vielleicht werde ich es Ihnen irgendwann einmal erklären, wahrscheinlich aber nicht. Geben Sie sich damit zufrieden: Es gibt in diesem Land ein paar Dienstausweise, die Sie wahrscheinlich noch nie im Leben zu Gesicht bekommen haben, und Sie sollten beten, daß es so bleibt.«
»Einen Moment, bitte«, sagte Bremer. Sein Kopf tat noch immer weh, aber er war mit einem Male hellwach. Wem wollte Sendig eigentlich diese Räuberpistole erzählen? »Nur, damit ich das richtig verstehe: Sie behaupten, daß man Sie damals gezwungen hat, die Ermittlungen zu verschleppen. Sie?« Das letzte Wort hatte er in so zweifelndem Ton ausgesprochen, daß sich ein verkniffenes Lächeln auf Sendigs Gesicht stahl.
»Das kommt Ihnen seltsam vor, nicht? Aber eine ganze Reihe von Leuten haben damals überraschend Karriere gemacht oder sind unerwartet zu Geld gekommen.«
Diesmal verging eine Weile, bevor Bremer überhaupt begriff, was Sendig damit sagen wollte. Ungläubig riß er die Augen auf. »Sie wollen mir nicht im Ernst erzählen, daß man Sie bestochen hat.«
»Niemand hat mir irgend etwas angeboten«, antwortete Sendig. »Man hat mir nur zu verstehen gegeben, daß es sich nicht besonders günstig auf meine Karriere auswirken würde, wenn ich unvernünftig wäre. Ich war vernünftig - und wurde acht Monate später zum Leiter der Mordkommission befördert.«
»Das wären Sie sowieso geworden«, widersprach Bremer, und das so heftig, daß es ihn selbst überraschte.
»Sicher«, erwiderte Sendig. »Früher oder später. Aber wahrscheinlich doch eher später. Jeder hat seinen Preis, Bremer. Ich auch. Ich habe nur ein bißchen zu spät begriffen, daß es Dinge gibt, die man sich nicht abkaufen lassen kann. Nicht einmal dann, wenn man es will. Wissen Sie, ich habe die Gesichter dieser beiden toten Kinder nie mehr vergessen.«
Bremer antwortete nicht darauf. Das Gehörte hatte ihn erschüttert, und er hatte es noch längst nicht wirklich begriffen. Sendig hatte sich kaufen lassen? Das war vollkommen unmöglich. Er weigerte sich einfach, es zu glauben!
»Ich habe mir eingebildet, es wäre vorbei«, fuhr Sendig fort. »Aber das ist es nicht. Was oder wer immer Löbach umgebracht hat, es war dasselbe wie damals. Aber diesmal werde ich herausfinden, was es ist.«
»Trotz der Dienstausweise?« fragte Bremer.
»Wegen der Dienstausweise«, verbesserte ihn Sendig. »Ich nehme meinen Beruf ernst, Bremer. Ich habe geschworen, die Menschen in dieser Stadt zu beschützen und das Gesetz zu achten. Und niemand wird mich ein zweites Mal dazu bringen, diesen Eid zu brechen. Ganz egal, was für einen Dienstausweis er auch hat. Politische Gründe interessieren mich einen Dreck, wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen.«
Das waren große Worte. Für Bremers Geschmack beinahe ein bißchen zu groß. Aber was bei den meisten anderen aufgesetzt und im besten Fall theatralisch geklungen hätte, das hörte sich bei Sendig beinahe glaubhaft an.
»Und dabei soll ich Ihnen helfen?« fragte Bremer. Als Sendig nickte, fügte er hinzu: »Warum ausgerechnet ich? Doch bestimmt nicht nur, weil ich damals Gefühle gezeigt habe.«
Sendig warf einen langen Blick in die Runde. Er taxierte die einfache, aber geschmackvolle Einrichtung der Ein-Zimmer-Wohnung, das ungemachte Bett, von dem er Bremer aufgescheucht hatte, und die Schrankwand, deren Fächer fast vollkommen von Bremers privater Videosammlung eingenommen wurden.
Es dauerte eine Weile, bis Bremer begriff, daß dieser Blick keineswegs den Grund hatte, Zeit zu schinden, sondern bereits Teil der Antwort auf seine Frage war.
»Zum Teil tatsächlich, weil Sie damals dabei waren«, sagte er schließlich. »Ich könnte niemandem wirklich erklären, wie es war. Ihnen muß ich das nicht, Sie haben es gesehen. Außerdem sind Sie ein guter Mann.«
»Und zum anderen Teil?«
»Sie sind Junggeselle«, sagte Sendig. »Ich habe mich über Sie erkundigt. Sie haben kaum andere Interessen als Ihren Beruf. Kaum Hobbys, außer Ihre Vorliebe für Filme - die meiner Meinung nach keinen anderen Grund als schlichte Langeweile hat -, und dazu eine blütenweiße Weste. Wenn meine Informationen stimmen, haben Sie in den letzten acht Jahren nicht einmal falsch geparkt. Es dürfte ziemlich schwer sein, Sie irgendwie unter Druck zu setzen.«
»Und Sie glauben, daß das passieren wird?«
»Keine Ahnung«, gestand Sendig. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ebensogut ist es möglich, daß gar nichts passiert. Vielleicht sehe ich ja nur Gespenster. Machen Sie das Beste für sich draus. Sie haben doch schon einmal einen Antrag gestellt, zur Kripo versetzt zu werden, oder?«
»Vor zwei Jahren«, bestätigte Bremer. »Er wurde abgelehnt.«
»Ich habe ihn abgelehnt«, sagte Sendig ruhig. »Nur, damit Sie sehen, daß ich wirklich mit offenen Karten spiele.«
Bremer starrte ihn an. »Sie? Aber warum, um Gottes willen?«
Sendig sah ihn mit Unschuldsmiene an. »Vielleicht hatte ich eine Vorahnung«, sagte er. »Wenn ja, war sie richtig. Sonst hätte ich ja jetzt nichts, was ich Ihnen bieten könnte. Schon vergessen? Jeder Mensch hat seinen Preis. Ich lasse Sie zur Kripo versetzen - zuerst vorübergehend, und falls wir beide diese Geschichte halbwegs unbeschadet überstehen sollten, auf Dauer.«
Wenn von dem, was Sendig erzählte, auch nur die Hälfte wahr war, dachte Bremer düster, dann konnte er wahrscheinlich hinterher von Glück sagen, wenn er sich bei der Autobahnpolizei wiederfand und die Leitplanken polieren durfte. »Was erwarten Sie jetzt von mir?« fragte er. »Daß ich Ihnen vor Dankbarkeit um den Hals falle, weil Sie mir etwas anbieten, das Sie mir selbst weggenommen haben?«
Sendig zog eine abfällige Grimasse. »Halten Sie mich meinetwegen für ein Schwein«, sagte er gleichmütig. »Es soll mir recht sein. Ich habe einen Ruf zu verteidigen, wissen Sie. Ich bitte Sie um Ihre Hilfe, nicht, mich zu heiraten.« Er stand auf. »Also?«
»Kann ich es mir überlegen?« fragte Bremer.
»Selbstverständlich.« Sendig deutete auf die Tür. »Genau so lange, wie ich brauche, um zur Tür zu gehen und diesen Raum zu verlassen. Danach werde ich leugnen, dieses Gespräch jemals geführt zu haben.«
Eine innere Stimme flüsterte Bremer zu, daß er besser beraten war, die Frage nicht laut auszusprechen, die ihm auf der Zunge lag, aber er ignorierte sie und fragte: »Und was, wenn ich nein sage? Immerhin könnte ich zu der geheimnisvollen Stimme am Telefon gehen und ihr alles erzählen.«
Sendig verzog keine Miene. »Das würde ich bedauern«, sagte er kühl. »Aber in diesem Fall müßte ich Innen wohl beweisen, was für ein Schwein ich wirklich sein kann.«
Das ließ an Deutlichkeit nicht viel zu wünschen übrig, und Bremer glaubte ihm jedes Wort. Wenigstens waren die Fronten jetzt geklärt, dachte er. »Also gut«, sagte er. »Sie haben gewonnen. Es ist zwar völlig verrückt, aber ich bin dabei.«