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»Es freut mich, daß Sie sich so entscheiden«, sagte Sendig. »Ich fahre jetzt nach Hause und ziehe mich um. Meine Frau wird wahrscheinlich schon eine Vermißtenanzeige aufgegeben haben. Ich wollte auf dem Rückweg von der Oper nur noch mal kurz ins Büro, um eine Akte zu holen. Seither hat sie nichts mehr von mir gehört. Ich hole Sie in, sagen wir...« Er sah auf die Uhr. »... zwei Stunden ab, und wir fahren zusammen zu Herrn Sillmann, um ihm die eine oder andere Frage zu stellen. Einverstanden?«

Bremer nickte, und Sendig ging, ohne sich zu verabschieden. Bremer starrte die geschlossene Tür hinter ihm noch eine ganze Weile an, selbst als Sendig das Haus längst verlassen hatte und er hören konnte, wie sein Wagen unten auf der Straße abfuhr. Seine Gedanken rasten, aber gleichzeitig schienen sie sich auch träge wie halb erstarrter Sirup zu bewegen. Was er in den letzten zehn Minuten gehört hatte, das war unglaublicher und zugleich erschreckender als alles, was ihm in seinen bisherigen Dienstjahren untergekommen war. Hatte Sendig gerade wirklich zugegeben, daß er sich hatte kaufen lassen? Und hatte er tatsächlich fast im gleichen Atemzug versucht, ihn zu kaufen?

Und so unglaublich dieser Gedanke schon klang, es gab einen, der noch erschreckender war, nämlich den, daß er, Bremer, im Grunde gar nichts dagegen hatte, sich kaufen zu lassen.

8. Kapitel

In all den Jahren, die er jetzt hierherkam, hatte sich dieser Raum nicht verändert. Das Antlitz der Klinik befand sich in einem sehr langsamen, aber beständigen Wandeclass="underline" Türen und Fenster waren in freundlichen Farben gestrichen worden, verschlissene Teppiche ersetzt, das eine oder andere Bild aufgehängt oder abgenommen, das eine oder andere Gesicht ausgetauscht worden. Aber an diesem speziellen Zimmer waren sämtliche Veränderungen spurlos vorübergegangen. Tapeten und Mobiliar waren ebenso geblieben wie die beiden geschmackvollen Drucke an der dem Fenster gegenüberliegenden Wand. Auf dem Tisch stand noch immer der gleiche Aschenbecher aus weißem Carrara-Marmor wie vor vier Jahren, ja selbst die Zeitschriften, die säuberlich aufgestapelt auf einem kleinen Tischchen neben dem Fenster lagen, schienen die gleichen zu sein wie immer.

Natürlich wußte Mark, daß das nicht stimmte. Das Titelbild der obersten Illustrierten hatte er am Morgen in der Auslage des Bahnhofskioskes gesehen, und wahrscheinlich wären ihm noch mehr Veränderungen aufgefallen, hätte er nur danach gesucht. Die Wahrheit war, daß er es nicht wollte. Sein Leben, das während des zurückliegenden halben Jahrzehnts aus praktisch nichts anderem als Warten bestanden hatte, war innerhalb der letzten vierundzwanzig Stunden derart - und derart schnell - in Bewegung geraten, daß er sich plötzlich fast verzweifelt an jede noch so kleine Konstante klammerte, die er fand. Selbst wenn sie in Wirklichkeit gar nicht da war.

Er hörte Schritte draußen auf dem Flur, und fast im gleichen Moment wurde die Tür geöffnet. Mark wappnete sich gegen den Anblick, der sich ihm bieten würde, obwohl er wußte, daß er nicht dramatisch oder auch nur erschreckend war. Aber er war nervös. Auf seiner Zunge lag ein pelziger Geschmack, den er wider besseres Wissen auf seine Übermüdung schob, und er fragte sich, was er eigentlich hier wollte. Hätte er nur einen Moment mehr Zeit gehabt, wäre er vielleicht aufgestanden und wieder gegangen, ohne auf seine Mutter zu warten. Aber auch das gehörte zu diesem Zimmer. Es erging ihm fast jedes Mal so, wenn er hier war.

Mark hatte einen Pfleger erwartet, doch es war niemand anders als Schwester Beate, die seine Mutter hereinführte. »Herr Sillmann - Ihre Mutter. Aber bitte: nur eine halbe Stunde. Sie bringen sonst den ganzen Ablauf hier durcheinander.«

»Selbstverständlich«, antwortete Mark. Er hatte nicht vor, lange zu bleiben. Konkret hatte er es noch nie länger als zwanzig Minuten hier ausgehalten, meistens nicht einmal das. Er stand auf, eilte um den Tisch herum und schloß seine Mutter in die Arme. Sie ließ es einen Moment lang zu, dann schob sie ihn mit sanfter Gewalt ein kleines Stückchen von sich fort und sah kopfschüttelnd zu ihm hoch.

»Mark! Was ist denn los? Du tust ja geradeso, als hätten wir uns monatelang nicht gesehen!«

Es waren genau sechs Monate, aber Mark ersparte es sich, das auszusprechen. Seine Mutter lebte in ihrer eigenen Zeit, die anderen Gesetzen gehorchte als die der restlichen Welt. »Ich freue mich nur so, dich wiederzusehen«, sagte er, dann wandte er sich mit einer entsprechenden Geste an die Schwester.

»Es ist gut«, sagte er. »Ich sage Ihnen dann Bescheid, wenn wir fertig sind.«

»Eine halbe Stunde«, erinnerte sie, schloß dann aber die Tür hinter sich und ging. Mark wartete ganz automatisch darauf, einen Verschlußmechanismus einrasten zu hören oder einen Riegel. Das geschah niemals. Sie befanden sich in einem Teil des Instituts, in dem es keine verschlossenen Türen gab, keine Gummizellen, keine Gitterstäbe und keine Sicherheitsvorkehrungen - zumindest keine, die man sah. Die Mauern dieses Gefängnisses waren unsichtbar und körperlos. Sie existierten nur in den Köpfen seiner Insassen. Er hätte hinausspazieren und seine Mutter vielleicht sogar mitnehmen können, ohne daß es aufgefallen wäre.

Mark wartete, bis seine Mutter sich gesetzt hatte, bevor er ihr gegenüber Platz nahm und sie jetzt das erste Mal aufmerksam ansah. Sie hatte sich sehr verändert, seit er das letzte Mal hiergewesen war. Trotz der frühen Stunde und des fast schäbigen Morgenmantels, den sie trug, wirkte sie wie immer sehr gepflegt - perfekt frisiert und mit sorgfältig manikürten Nägeln. Und vor allem ihre Haltung: jeder Zoll die Grande Dame, die sie einst gewesen war. Vielleicht war dies das Grausamste an ihrer Krankheit überhaupt, daß sie ihr Äußeres vollkommen unangetastet gelassen hatte. Sie war mittlerweile vierzig, aber noch immer eine sehr attraktive Frau und noch immer eine - scheinbar - starke Persönlichkeit. Trotzdem war irgend etwas anders an ihr. Sie wirkte auf eine unbestimmte Weise traurig. Ihre Bewegungen waren ein wenig gedämpfter, ihre Stimme eine Spur leiser, der Glanz ihrer Augen nicht ganz so intensiv wie sonst. Aber Mark fragte sich, ob sie sich tatsächlich verändert hatte - oder er sie vielleicht nur anders sah.

»Es ist schön, daß du kommst«, sagte sie. »Ich habe mich gestern sehr gelangweilt. Ich weiß natürlich, daß ich nicht von euch verlangen kann, mich jeden Tag zu besuchen. Manchmal habe ich das Gefühl, daß die Zeit hier stehenbleibt, wenn niemand kommt. Hast du deinen Vater nicht mitgebracht?«

»Er weiß nicht, daß ich hier bin«, antwortete Mark.

»Ein Überraschungsbesuch? Du hast dich ganz spontan dazu entschieden? Das ist nett. Aber trotzdem -«, sie sah auf ihre Armbanduhr und runzelte demonstrativ die Stirn, »- was tust du hier? Solltest du um diese Zeit nicht eigentlich in der Schule sein?«

»Ich gehe nicht mehr zur Schule, Mutter«, sagte Mark geduldig.

»Nicht mehr zur Schule? Was soll das heißen? Sind denn schon Ferien?«

»Bald«, antwortete Mark. »Noch ein paar Wochen. Aber das ist nicht der Grund, weswegen ich hier bin.«

»Oh, ich verstehe«, unterbrach ihn seine Mutter, indem sie ihm spielerisch mit dem Zeigefinger drohte. »Du hast einfach blaugemacht! Geschwänzt, um deine arme Mutter im Krankenhaus zu besuchen. Das ist lieb gemeint, aber nicht besonders klug von dir. Es ist wichtig, zur Schule zu gehen, hörst du! Außerdem wird dein Vater nicht besonders erfreut sein, wenn er hört, daß du die Schule geschwänzt hast. Ich fürchte, ich werde es ihm sagen müssen, wenn er kommt. Kommt er heute?« Sie legte den Kopf auf die Seite und runzelte erneut angestrengt die Stirn. »Ich weiß gar nicht... War er gestern da, oder vorgestern?«