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»Vater war nicht vorgestern hier, Mutter«, sagte Mark, so ruhig er konnte. »Und er war auch gestern nicht hier, und er wird heute nicht kommen und auch morgen nicht. Er war seit fünf Jahren nicht mehr hier, und er wird dich auch in den nächsten fünf Jahren nicht besuchen.«

Seine Mutter blinzelte verwirrt. »Was redest du da?«

»Und ich gehe auch nicht mehr zur Schule«, fuhr Mark fort. »Weder heute noch morgen oder nach den Ferien.«

»Nicht?«

»Ich habe die Schule abgebrochen«, sagte Mark. Natürlich war es sinnlos. Sie hörte seine Worte vielleicht, aber sie bedeuteten nichts für sie, denn das, worüber er sprach, gehörte zu jenem Teil des Universums, der auf der anderen Seite des Abgrundes lag, hinter dem sich ihr Bewußtsein verschanzt hatte. Trotzdem glaubte er einen Moment lang - nein: redete es sich ein -, so etwas wie Begreifen in ihrem Blick aufflackern zu sehen.

»Ich habe die Schule abgebrochen und bin aus dem Internat ausgezogen. Ich weiß noch nicht genau, wie es jetzt weitergeht, aber ich werde erst einmal hier in der Stadt bleiben, und ich verspreche dir, daß ich mich in Zukunft mehr um dich kümmern werde als bisher.«

»Das ist wirklich lieb von dir«, sagte seine Mutter, »aber nicht nötig. Die Ärzte hier sind wirklich gut, und das Personal ist sehr zuvorkommend. Die paar Tage, die ich noch hierbleiben muß, gehen auch noch vorbei. Dein Vater -«

»Mein Vater«, unterbrach Mark sie so scharf, daß nur noch eine Nuance fehlte, und er hätte geschrien, »ist schuld daran, daß du hier bist, Mutter. Er hat dich hierhergebracht. Aber ich werde dafür sorgen, daß das nicht mehr lange so bleibt. Bisher konnte ich nichts tun, aber jetzt hat er keine Macht mehr über mich. Ich weiß noch nicht, wie, aber irgendwie hole ich dich hier heraus. Das verspreche ich dir.«

Ein Versprechen, das er nicht halten konnte. Und er wußte es auch selbst. Die Worte waren nicht mehr als Ausdruck seiner Hilflosigkeit und der Wut, die immer noch tief in ihm schlummerte und immer wieder neu aufflammte, wenn er hierherkam und sah, was aus seiner Mutter geworden war. Er konnte es nicht einhalten, und er war nicht einmal ganz sicher, ob er es wollte. Ganz gleich, wie sehr er seinen Vater auch für das haßte, was er ihr angetan hatte - sie war nun einmal, was sie war, und mit Sicherheit war sie hier am besten aufgehoben. Mit ausreichend Energie, Zeit und einem Bataillon gewiefter Rechtsanwälte würde es ihm vielleicht sogar wirklich gelingen, sie hier herauszuholen. Aber mit ziemlicher Sicherheit würde er sie damit auch umbringen.

»Hast du eigentlich daran gedacht, den Videorecorder zu programmieren?« fragte seine Mutter plötzlich. Ihre Stimme klang ein bißchen alarmiert. »Du weißt, wie sehr ich Dallas liebe. Ich möchte keine Folge verpassen!«

»Dallas läuft seit fünf Jahren nicht mehr, Mutter«, murmelte Mark. Laut und mit einem erzwungenen Lächeln sagte er: »Natürlich. Es ist alles auf Band. Du versäumst nichts, keine Angst.«

»Ich weiß, daß es albern ist«, antwortete seine Mutter mit einem kleinen, verlegenen Lächeln. »Dein Vater wird immer ganz zornig, wenn er sieht, daß ich mir diese Serie anschaue. Aber ich mag sie nun einmal. Und jetzt erzähl mir von der Schule. Hast du immer noch so große Schwierigkeiten mit der Mathematik? Ich hoffe doch, du gehst weiter regelmäßig zum Nachhilfeunterricht - auch wenn ich nicht da bin, um auf dich aufzupassen.«

Mark resignierte. Er hätte nicht enttäuscht sein dürfen - für seine Mutter war er noch immer zwölf Jahre alt und würde es auch immer bleiben -, aber er war es, so sehr, daß es beinahe körperlich weh tat. Manchmal, wenn er hier war, fragte er sich allen Ernstes, ob er es vielleicht aus dem einzigen Grund immer wieder tat, um sich für irgend etwas zu bestrafen. Trotzdem sagte er noch einmaclass="underline" »Ich gehe nicht mehr zur Schule, Mutter. Ich bin seit gestern achtzehn. Ich bin volljährig und lebe jetzt mein eigenes Leben. Vater hat mir nichts mehr zu sagen. Und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dich hier herauszuholen.«

Damit endete sein sinnloses Aufbegehren gegen die Wirklichkeit aber auch. Er blieb noch fünfzehn Minuten, aber er schlüpfte mit jeder Minute mehr in die Rolle, die er für sie ohnehin spielte, seit er gekommen war: die des Zwölfjährigen, der seine Mutter im Krankenhaus besuchte, in dem sie seit einigen Tagen lag und aus dem sie in wenigen Tagen entlassen werden würde, wegen einer - wie sie es dezent ausdrückte - Frauengeschichte. Die Ärzte hatten es ihm damals erklärt. Ihr Bewußtsein war in einer temporären Schleife gefangen, die drei oder vier Tage zurückreichte und dann immer wieder aufs neue begann. Sie konnte sich nie erinnern, worüber sie bei seinem letzten Besuch gesprochen hatten. Oder wie lange er hier war. Sie konnte sich nicht wirklich erinnern, warum sie hier war, und erst recht nicht, weshalb man sie eingeliefert hatte. Sie hätte all dies gekonnt, aber sie wollte es nicht. Etwas in ihr wollte es nicht. Und keine Macht der Welt, kein ärztliches Können und kein Medikament waren bisher stark genug gewesen, diese Weigerung zu durchbrechen. Manchmal fragte sich Mark, ob sie überhaupt das Recht hatten, es zu tun. Ihr Geist hatte sich in ein winziges Schneckenhaus zurückgezogen, in dem er sicher und behütet war - und mit welchem Recht maßten sie sich eigentlich an, ihn dazu zu zwingen, sich den Schrecken zu stellen, vor denen er geflohen war?

Jetzt jedenfalls versuchte er es nicht mehr. Er spielte seine Rolle perfekt, erzählte von einer Schule, auf der er nie gewesen war, von Klassenkameraden, die es nicht gab, und Lehrern, deren Namen er sich im gleichen Moment ausdachte, in dem er sie nannte. Er erzählte von einem Zuhause, das längst nicht mehr existierte, und von einer Familie, die es vielleicht nie gegeben hatte. Schließlich begann seine Mutter unruhig zu werden. Auch das gehörte zu ihrer Krankheit. Sie konnte sich kaum länger als zehn oder fünfzehn Minuten auf eine bestimmte Tätigkeit oder ein Gespräch konzentrieren, und er wollte sich selbst den Moment ersparen, in dem sie begann, ihre Fragen vom Beginn des Gespräches zu wiederholen. Er umarmte sie noch einmal zum Abschied, dann drehte er sich mit einem Ruck herum, stürmte regelrecht aus dem Zimmer und die ersten Schritte den Flur hinunter. Erst auf halbem Wege zum Aufzug wurde er wieder langsamer, und auch sein Atem beruhigte sich.

Er blieb einen Moment stehen, um sich vollends zu beruhigen, ging aber dann doch schnell weiter und steuerte den Aufzug an. In wenigen Augenblicken schon würde die Schwester oder auch einer der Pfleger kommen, um seine Mutter abzuholen, und er wollte ihr nicht noch einmal begegnen: Nicht jetzt. Er hätte es nicht ertragen, wenn sie ihn voller Überraschung begrüßt und in die Arme geschlossen hätte, als wäre er seit Tagen nicht mehr hiergewesen. Mark gestand sich jetzt ein, daß es ein Fehler gewesen war, überhaupt herzukommen.

Der Aufzug ließ auf sich warten. Das kleine Licht neben der Tür blieb eine ganze Weile auf Rot, was bedeutete, daß die Kabine irgendwo unter oder über ihm stillstand, und er war schon fast so weit, aufzugeben und die Treppe nehmen zu wollen, als die Farbe endlich von Rot zu Grün wechselte und er hören konnte, wie eine Etage unter ihm die Lifttüren zuglitten. Einen Moment später setzte sich die Kabine in Bewegung. Mark trat ganz automatisch einen Schritt zurück, als sie wieder anhielt und die Türhälften sich vor ihm teilten, aber der Lift war leer, niemand trat heraus, dem er hätte Platz machen müssen. Mit einem schnellen Schritt trat er in den Lift hinein, sah hoch - und hätte um ein Haar laut aufgeschrien.

Er war da.

Die Aufzugkabine bestand ganz aus mattiertem Chrom, auf dem sich seine eigene Gestalt als verzerrter Schemen widerspiegelte - aber er war nicht allein. Hinter seinem Spiegelbild war ein zweites, ein wehender, weißer Schatten ohne Gesicht, der lautlos näher kam.

Er war da.

Der Engel aus seinem Traum.

Er hatte die Grenzen zur Wirklichkeit durchbrochen und war jetzt hier, um ihn zu holen.