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Statt dessen griff er mit einer bewußt forschen Bewegung nach der Karte, überflog sie rasch und sagte: »Die Rühreier kann ich empfehlen. Sie sind wirklich gut.«

»Ich weiß«, antwortete sie. »Ich lebe seit drei Monaten praktisch davon. In den ersten vier Wochen haben sie sogar geschmeckt.«

»Und in den anderen?«

»Auch. Aber mittlerweile kommen sie mir zu den Ohren wieder raus. Lassen wir es bei dem Kaffee.« Und dabei, mich nicht noch weiter in Verlegenheit zu bringen, okay?

Mark zuckte mit den Schultern und bestellte für sich eine heiße Schokolade, und er gewann einen weiteren Moment, indem er scheinbar interessiert aus dem Fenster sah und den parkähnlichen Innenhof des Gebäudetrakts musterte. Wie die Cafeteria bot auch er einen ungewöhnlich verwaisten Anblick. Irgendwie schien heute alles anders zu sein, als er in Erinnerung hatte, nur weil er früher gekommen war. Es war erstaunlich, welchen Unterschied einige wenige Stunden machten. Offenbar gab es verschiedene Welten, die nebeneinander und am gleichen Ort existierten, nur durch die Tageszeiten getrennt.

»Ich möchte mich noch einmal in aller Form entschuldigen«, sagte er schließlich. »Mein Benehmen von vorhin -«

»War völlig in Ordnung«, unterbrach ihn Beate. »Ich bin es, die sich entschuldigen müßte. Für heute morgen, und für gerade.«

»Gerade?«

»Ich war, glaube ich, ein bißchen... aufdringlich«, sagte sie verlegen. »Aber irgendwie haben Sie mich überrumpelt. Ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, und das mit der Einladung zum Frühstück war das erste, was mir einfiel. Ziemlich dumm, furchte ich.«

» ›Macht nichts‹ wäre auch nicht viel origineller gewesen«, antwortete Mark. »Außerdem ist es schon okay. Ich... bin ganz froh, mich ein bißchen unterhalten zu können.«

»Ich habe Sie nicht gleich erkannt«, fuhr Beate unbeeindruckt fort. »Wissen Sie, als ich Ihren Namen hörte, war ich einfach überrascht. Ich meine... wir alle kennen Ihre Mutter, und ich habe eine Menge von Ihnen gehört. Sie erzählt viel von Ihnen. Aber ich hatte Sie mir... nun ja - anders vorgestellt.«

»Anders?«

»Jünger«, gestand Beate, die immer mehr in Verlegenheit zu geraten schien, obwohl Mark nicht hätte sagen können, warum.

Er nickte. »Ich verstehe. Sie erzählt von ihrem zwölfjährigen Sohn, der vor einem Jahr aufs Gymnasium gekommen ist und Schwierigkeiten mit Latein und Algebra hat.«

»Ja«, gestand Beate. »Es tut mir leid. Ich habe einfach nicht richtig geschaltet. Natürlich hätte ich wissen müssen, wer Sie sind, aber als Sie plötzlich vor mir standen und behaupteten, ihr Sohn zu sein, da habe ich es einfach nicht kapiert.«

»Wahrscheinlich wäre es mir genauso gegangen«, sagte Mark, ganz impulsiv und nur aus dem Bedürfnis heraus, sie irgendwie zu trösten. »Es muß ziemlich verwirrend sein, einen Zwölfjährigen zu erwarten und mich dann zu sehen. Enttäuscht?«

Sie blinzelte verwirrt. »Wie?«

»Schon gut.« Mark lächelte und machte eine entsprechende Handbewegung. »Schwamm drüber. Einigen wir uns darauf, daß wir beide einen Fehler gemacht haben und quitt sind, okay?«

Ihr Lächeln wirkte immer noch ein bißchen schüchtern, und in ihren Augen zeichnete sich jetzt fast so etwas wie Angst ab. Wovor? Er vermochte nicht einmal zu erraten, was es war, aber er spürte plötzlich mit beinahe schon körperlicher Intensität, daß das Mädchen sich vor etwas fürchtete; als hätte sie einen Fehler begangen, der viel schlimmer war als der, den sie zugab, und weitreichende Konsequenzen haben mochte. Doch er sah in ihren Augen auch noch mehr. Da war etwas... Irritierendes. Ein Interesse, fast etwas Forderndes, das er sich noch viel weniger erklären konnte, aber das eindeutig da war.

»Sie kennen meine Mutter also?« fragte er, nur um überhaupt etwas zu sagen. Ihre Art, ihn anzusehen, verunsicherte ihn immer mehr.

»Sicher. Wir kennen sie alle. Und jeder hier hat sie sehr gern. Sie ist eine außergewöhnliche Frau.«

Das war sie einmal, dachte Mark. Heute ist sie nur noch ... Er gestattete sich nicht, den Gedanken zu Ende zu formulieren, sondern sagte laut: »Ja, das ist sie wohl.«

Die falschen Worte, und die falsche Betonung. Etwas in Beates Blick erlosch und machte dem Mitgefühl von vorhin Platz. Nur daß es nicht mehr das gleiche Mitgefühl war. Jetzt war es etwas, was ihn in Verlegenheit brachte.

»Es muß schlimm für Sie sein, sie so zu sehen«, sagte sie.

»Schlimm? Wie kommen Sie darauf?« Mark nippte an seinem Getränk und starrte an ihr vorbei ins Leere.

»Sie sehen ziemlich mitgenommen aus«, antwortete sie offen.

»Das bin ich auch«, sagte Mark. »Aber es hat... andere Gründe.« Und für einen winzigen Moment war er nahe daran, ihr alles zu erzählen - die Geschichte der letzten Jahre, die die Hölle gewesen waren, die der vergangenen Nacht und vor allem seines Traumes, in dem sich diese Jahre zu einer gräßlichen Vision akkumuliert hatten, die ihn bis jetzt nicht ganz losgelassen hatte, und die dessen, was noch vor ihm lag. Auch das war ein Gedanke, dem er bisher erfolgreich ausgewichen war, aber in spätestens einer halben Stunde würde er sich dem bisher größten Hindernis auf seinem Weg in die Freiheit stellen müssen: seinem Vater. Und vielleicht - wahrscheinlich sogar - hätte er ihr sogar alles erzählt, denn plötzlich sehnte er sich nach nichts mehr als nach einem Menschen, der einfach nur zuhörte, hätte Beate in diesem Moment nicht etwas getan, worauf er vollends unvorbereitet war: Sie streckte die Hand aus und berührte seine Finger, und es war eine sehr warme, vertraute Berührung, in der etwas von dem war, was er auch in ihrem Blick gelesen hatte.

Er fuhr zusammen, und im gleichen Augenblick zog Beate erschrocken die Hand zurück. Sie sah ein bißchen betroffen aus, und auf die gleiche Art schuldbewußt wie gerade, so daß er nun hastig nach ihren Fingern griff und sie festhielt. Allerdings nur für einen Moment, denn plötzlich wurde ihm bewußt, daß die beiden Pfleger, die an einem Tisch am anderen Ende des Raumes saßen, schon seit einer geraumen Weile zu ihnen herüberblickten. Zum einen war ihm das peinlich, zum anderen wußte er, daß es hier sehr strenge - und sicher berechtigte - Vorschriften gab, was das Verhältnis des Personals zu den Patienten und deren Anverwandten anging. Das St.-Eleonor-Stift war eine der teuersten Privatkliniken der Stadt, wenn nicht des Landes. Niemand, der hierherkam und einen Verwandten besuchte, lebte von der Sozialhilfe, und der Institutsleitung war sicher bewußt, wie groß die Verlockung für eine junge Schwester oder einen gutaussehenden Pfleger sein mochte, sich einen Millionärssohn oder eine reiche Erbin zu angeln, und für einen ganz kurzen Moment kam ihm ein ketzerischer Gedanke: nämlich der, ob nicht ganz genau das der Grund war, weswegen Schwester Beate sich plötzlich so sehr für ihn interessierte.

Sofort wurde ihm klar, daß dieser Verdacht nicht nur absurd, sondern auch boshaft und ungerecht war. Sie hätte schon verdammt schnell schalten und außerdem ein ziemlich berechnendes Biest sein müssen, um so schnell zu reagieren. Und irgend etwas sagte ihm, daß keines von beidem zutraf. Die Wahrheit war sehr viel simpler. Sie hatte einfach gesehen, in welchem Zustand er sich befand, und wollte ihn irgendwie trösten. Einfach nett zu ihm sein.

Mark hatte mit einem Mal das völlig aberwitzige Gefühl, daß sie seine Gedanken erraten haben mußte - und ein daraus resultierendes sehr schlechtes Gewissen. Er hatte heute wirklich ein einmaliges Talent, jedem, der den Fehler beging, freundlich zu ihm sein zu wollen, einen Tritt zu verpassen.