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Artner blieb einige Sekunden unter der Tür stehen, während Claudia ihn aufmerksam musterte. Nicht mit dem leeren Blick einer Idiotin, sondern offen, neugierig und überrascht und auch ein ganz kleines bißchen mißtrauisch. Und zugleich auch sehr freundlich. Sie sah ihn immer auf die gleiche Art an, wenn er hereinkam, denn obwohl er sie fast täglich besuchte, war er doch jedesmal ein Fremder für sie.

Claudias Gedächtnis hatte vor sechs Jahren aufgehört, neue Informationen aufzunehmen. Sie lebte in einem ständigen Jetzt, das sich mit jedem Tag um weitere vierundzwanzig Stunden von der Gegenwart entfernte.

»Hallo«, sagte er.

Das Mädchen legte lauschend den Kopf auf die Seite und schien über das Wort nachzudenken, dann sagte auch sie: »Hallo.«

Artner lächelte. Heute war ein guter Tag. Es gelang ihm nicht immer, ihr Vertrauen zu erringen. Heute mochte sie den Fremden, der ihre Zelle betreten hatte. Aber das war längst nicht immer so. An manchen Tagen war ihr Mißtrauen stärker als ihre natürliche Offenheit, so daß sie nur einsilbig auf seine Fragen antwortete oder auch gar nicht mit ihm redete. Vorsichtig, um sie nicht durch eine unbedachte Bewegung zu erschrecken, ging er zum Bett und ließ sich auf der Kante nieder; nahe genug, um Vertrauen zu signalisieren, aber nicht so nahe, daß er ihre Sicherheitsdistanz unterschritten hätte.

»Wie fühlst du dich?« fragte er.

»Gut. Danke. Wer... sind Sie?«

»Ein Freund«, antwortete Artner, und dann, nach einem kurzen, letzten Zögern, fügte er hinzu: »Erinnerst du dich an mich?« Er stellte diese Frage nicht immer, denn manchmal reichte sie allein aus, alles zu zerstören. Das Vertrauensverhältnis zwischen ihnen war wie ein filigranes Gespinst, das jeden Tag aus einem anderen Material zu bestehen schien: mal aus massivem Stahl, so daß nichts es erschüttern konnte, manchmal aber auch aus feinster Gaze, die schon unter der geringsten Belastung zerriß. Auch wenn ihr Gedächtnis nicht funktionierte, so schien doch allein der Versuch, sich zu erinnern, etwas in ihr auszulösen. Und nur in den allerseltensten Fällen war es etwas Gutes.

Aber heute war wirklich ein guter Tag. Claudia schüttelte nur den Kopf und fragte: »Sollte ich das?«

»Nein«, antwortete Artner lächelnd. »Es ist nicht wichtig. Ich bin nur gekommen, um mich ein bißchen mit dir zu unterhalten. Wenn du möchtest, heißt das.«

»Unterhalten? Gern. Aber worüber?«

Das war nun wirklich etwas Besonderes. Claudia entwickelte selten irgendeine Initiative. In diesem Punkt ähnelte sie tatsächlich der Blume, mit der er sie manchmal verglich: Sie konnte unter bestimmten Umständen reagieren, aber so gut wie niemals agieren. Um so mehr überraschte ihn nun diese Frage. Zugleich erfüllte sie ihn mit einer jähen Hoffnung, einer Hoffnung, die er sich im Grunde vor Jahren schon selbst verboten hatte.

Artner rief sich innerlich zur Ordnung. Er hatte schon vor Jahren aufgehört, an Wunder zu glauben, und würde jetzt bestimmt nicht wieder damit anfangen, nur weil es so schön gewesen wäre. Diese Frage war kein erster Schritt, sondern ein Zufall. Eine Bedeutungslosigkeit, in die er etwas hineingeheimniste.

»Worüber du willst«, antwortete er.

Das Mädchen überlegte einen Moment, dann sagte es: »Über uns?«

Artner erstarrte. Ein unsichtbarer Kübel mit Eiswasser ergoß sich über seinen Rücken, und sein Herz schlug plötzlich hart und so ruckartig, als müsse es jedesmal gegen einen enormen Widerstand ankämpfen. »Über uns? Was... was meinst du damit?«

Sie antwortete nicht gleich. Nicht laut. Aber zum ersten Mal, seit Artner Claudia kannte, wünschte er sich fast, ihr Blick wäre so leer und erloschen, wie er es sein sollte, denn er las die Antwort auf seine Frage überdeutlich in ihren Augen. »Aber das weißt du doch genau«, sagte sie schließlich. »Du kannst es nicht vergessen haben. Es war so schön, und du hast gesagt -«

Artner erinnerte sich im letzten Moment des Pflegers, der in seinem Wachraum auf der anderen Seite des Ganges saß und vermutlich den Teufel getan und das Mikrophon ausgeschaltet hatte, sondern mit großen Ohren lauschte und mit noch größeren Augen zusah. Er unterbrach sie hastig: »Aber du hast doch gerade selbst gesagt, daß du mich gar nicht kennst. Erinnerst du dich denn an irgend etwas? Etwas, das mit mir zu tun hat - oder mit dir?« Er sprach langsam und wählte seine Worte mit großem Bedacht. Selbst, wenn der Pfleger nicht lauschte, würde trotzdem jedes Wort auf Band aufgezeichnet, und auch wenn er die Kassette spätestens heute abend löschen würde: Man konnte nie wissen, wer sich daran zu schaffen machte.

Claudia lachte. »Das ist ein Spiel, nicht wahr?« fragte sie. »Ich verstehe. Du willst mich auf die Probe stellen. Du glaubst, ich hätte dich vergessen, nicht wahr? Aber das habe ich nicht.«

Artner schluckte schwer. Er hätte sie mit einigen wenigen Worten zum Schweigen bringen können, und alles in ihm schrie danach, es zu tun. Er wußte, wie empfindlich sie war, und er wußte noch sehr viel besser, womit er sie verletzen konnte. Aber er brachte es einfach nicht über sich. Auch wenn das, was sie sagen mochte, das Ende seiner Karriere bedeuten konnte - oder doch zumindest den Anfang von sehr, sehr viel Ärger -, er konnte ihr nicht weh tun. Dazu war sie einfach zu verwundbar. Ihre Verletzlichkeit war ihre stärkste Waffe, und sein Wissen darum, daß sie diese Waffe niemals bewußt einsetzte, machte es nur noch schlimmer.

Und es gab noch einen Aspekt: Vor allem anderen war Artner auch in diesem Moment Wissenschaftler und Arzt. Besonders Arzt. Und er hätte schon blind und taub sein müssen, um nicht zu begreifen, daß er Zeuge einer wirklich dramatischen Veränderung wurde. Sein Erschrecken wich einer ebenso heftigen wie kaum noch beherrschbaren Erregung. Hatte er noch vor ein paar Sekunden selbst gedacht, daß er nicht an Wunder glaubte? Er erlebte gerade eines!

»Ein Spiel? Ja, warum eigentlich nicht? Spielen wir ein Spiel - was hältst du davon?« Er streckte die Hand in ihre Richtung aus, berührte sie aber nicht, sondern machte eine flatternde, auffordernde Geste mit den Fingern; eine Bewegung, mit der man einen jungen Hund oder eine Katze zum Spielen herausgefordert hätte. »Wir tun einfach so, als ob ich alles vergessen hätte, und du sagst mir, woran du dich zu erinnern glaubst. Und danach sage ich dir, was davon stimmt und was nicht. Einverstanden?«

»Aber das ist doch albern«, antwortete Claudia. »Du mußt dich doch erinnern - an den Tag, an dem du hier heruntergekommen bist und der Pfleger über seinem Kriminalroman eingeschlafen war. Du hast die Monitore abgeschaltet und bist dann hierhergekommen.«

Diesmal war es kein Eimer mit Eiswasser, sondern ein ganzer Tankzug. Das konnte sie nicht wissen. Er hatte es ihr nicht erzählt. »Woher... weißt du das?« fragte er. Seine Stimme klang belegt und schien einem Fremden zu gehören. Was ging hier vor? Was ging hier vor!

»Er hat es mir gesagt«, antwortete Claudia.

»Er? Von wem sprichst du?« Aber plötzlich wußte er es. Mit einem Mal ergab alles einen Sinn. Die anzüglichen Blicke, die plumpen Vertraulichkeiten - hatte er wirklich geglaubt, damit durchzukommen? Es war weiß Gott nicht das erste Mal, daß intellektuelle Intelligenz gegen Bauernschläue angetreten war und den kürzeren gezogen hatte. »Der Pfleger«, sagte er resignierend. »Er hat alles gesehen. Er hat es dir gesagt. Ich frage mich nur, warum. Was wollen Sie? Geld? Oder einen Freibrief, in Zukunft zu tun oder zu lassen, was immer Sie wollen?«