Nicht, daß ihn das sonderlich aufgehalten hätte. Ein bißchen Bestechung, ein bißchen Dreistigkeit und ein, zwei kleine Notlügen, und schon war er in einer Wohnung gewesen, die praktisch von der gesamten Berliner Polizei beschützt wurde, damit auch keiner überraschend hereinplatzte und ihn beim Fotografieren störte. Vielen Dank auch.
Natürlich war das, was Mogrod jetzt so selbstzufrieden vor seinem inneren Auge defilieren ließ, in der Realität nicht ganz so leicht gewesen, sondern im höchsten Maße illegal - aber das Ergebnis hatte den Einsatz gelohnt. Zigfach.
Er war mit dem ersten Film fertig, stellte die Entwicklerdose behutsam auf den Tisch zurück und wandte sich dem zweiten zu. Er wiederholte den Vorgang pedantisch, dann betätigte er die Taste der Zeitschaltuhr. Jetzt konnte er nur noch warten. Nicht einmal sehr lange, aber er wußte natürlich, daß selbst wenige Minuten jetzt zu Ewigkeiten werden würden.
Um sich abzulenken, verließ er die Dunkelkammer, ging in die Küche und bereitete sich eine Tasse Instant-Kaffee zu. Er schmeckte scheußlich, aber er war heiß und stark, und er schenkte ihm wenigstens die Illusion, seine Lebensgeister zu wecken. Mogrod leerte die Tasse mit kleinen Schlucken, zwischen denen er erzwungen lange Pausen einlegte, und er beherrschte sich eisern, nicht auf die Armbanduhr zu sehen, bevor die Tasse nicht vollkommen geleert war. Als er es dann tat, war die Enttäuschung um so größer. Es war wohl so, wie man sagte: Je mehr man darauf wartete, daß die Zeit verging, desto langsamer schien es zu geschehen.
Vielleicht sollte er in die Dunkelkammer zurückkehren. Ein Auge auf die Entwicklerdosen werfen. Was, wenn mit der Flüssigkeit etwas nicht in Ordnung war? Er hatte eine neue Flasche angebrochen, aber sie konnte schließlich schon im Laden überaltert gewesen sein, das Etikett mit dem Haltbarkeitsdatum unleserlich oder gefälscht, weil irgendein knickeriger Krämer die überlagerte Ware nicht wegwerfen wollte. Möglicherweise waren auch die Dosen undicht, so daß ein Lichtschimmer eindrang und die Negative verdarb, oder -
Oder der Himmel tat sich auf, und ein brennender Stern stürzte auf sein Haus und verschlang ihn samt seinen kostbaren Filmen. Schluß jetzt. Er hatte allen Grund, gespannt zu sein, aber verdammt noch mal keinen einzigen, hysterisch zu werden.
Statt in die Dunkelkammer zurückzugehen und womöglich aus lauter Ungeduld doch noch irgendeinen Fehler zu machen, brühte er sich eine zweite Tasse Kaffee auf, die er jedoch nicht sofort trank, sondern behutsam vor sich her ins Wohnzimmer balancierte. Einem Außenstehenden wäre der Raum klein, aber trotzdem in gewissem Maße behaglich eingerichtet vorgekommen, aber für Mogrod war er Sinnbild all dessen, was er verloren hatte. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte er ernsthaft überlegt, ob ein Kabuff wie dieses überhaupt groß genug für seine Dunkelkammer war - jetzt war es das größte Zimmer der Wohnung, und die schäbigen Möbel, die er zum größten Teil gebraucht erworben oder geschenkt bekommen hatte, waren alles, was er noch besaß.
Mogrod setzte sich schwer in einen der schäbigen Sessel, nippte an seinem Kaffee und ließ seinen Blick nachdenklich durch den Raum schweifen. Er sah die Möbel und die fleckigen Tapeten nicht wirklich, sondern nur das Dutzend Schwarzweißfotografien, die in schlichten Glasrahmen an der Wand neben der Tür hingen. Er betrachtete sie fast immer, wenn er hier saß und gerade nichts Besseres zu tun hatte - was in letzter Zeit ziemlich häufig der Fall gewesen war -, und er wurde niemals müde, es zu tun. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er Geld gehabt, einen Wagen, eine teure Wohnung, teure Freunde und noch teurere Frauen. Den Wagen und die Wohnung hatte er als erstes verloren, und die Freunde - die keine gewesen waren - kurz danach. Jetzt waren diese Bilder unwiderruflich alles, was ihm geblieben war.
Einem Fremden wären diese Bilder sonderbar vorgekommen, vielleicht ein wenig pervers, auf jeden Fall aber unheimlich, und objektiv betrachtet waren sie das wohl auch. Es waren seine Lieblingsbilder, die einzigen, die er aufgehoben hatte, aus der ganzen Zeit. Für drei davon hatte er Preise bekommen, für die allermeisten eine hübsche Stange Geld, und jedes einzelne hatte seine eigene Geschichte.
Die meisten zeigten dramatische Motive: ein brennendes Haus, auf dessen Dach Menschen standen; über ihnen kreisende Hubschrauber, die wegen der aufsteigenden Hitze und der Menschenmenge nicht auf dem Dach landen konnten. Mehr als ein Dutzend ineinandergerammter Autowracks, von denen einige ebenfalls in Flammen standen, und zwischen denen winzige Gestalten umherirrten, zwei von ihnen brennend. Ein totes Kind, das von einem Feuerwehrmann aus dem Kanalisationsrohr gezogen wurde, in das es gestürzt und qualvoll erstickt war. Das Wrack eines Sportflugzeuges, das auf eine Laubenkolonie gestürzt war, dicht daneben ein verkrümmter, kopfloser Torso, guillotiniert von einem abgebrochenen Propellerflügel. Tod und Katastrophen waren sein Metier gewesen.
Keines dieser Bilder ließ an Grausamkeit zu wünschen übrig, aber sie alle verblaßten neben dem Bild gleich neben der Tür. Es war nicht sonderlich scharf, und nicht einmal richtig belichtet, aber es war trotzdem das Glanzstück seiner Sammlung. Es zeigte eine junge Frau, farbig und mit zerrissenen Kleidern, die vor einem Panzer russischer Bauart davonlief. Ihre Füße waren nackt und hinterließen blutige Abdrücke auf dem Pflaster, und obwohl das Gesicht ebenso unscharf war wie der Rest der Aufnahme, konnte man die nackte Todesangst in ihren Augen doch deutlich erkennen. Der Panzer war noch fünf Meter hinter ihr und stand ein wenig schräg, weil er gerade über einen Wagen hinweggerollt war, der am Straßenrand stand, die Mündung des Kanonenrohres deutete genau in die Kamera. Trotz der schlechten Aufnahmequalität hatte das Foto eine unglaubliche Dynamik. Man konnte die Geschwindigkeit, mit der der Hundert-Tonnen-Koloß heranraste, geradezu sehen. Er hatte das Bild während der Schlacht um Aden aufgenommen, und er hätte es beinahe mit dem Leben bezahlt. Der Panzer hatte die Frau nicht erwischt, aber um ein Haar hätte er Mogrod überrollt. Er hatte sich im buchstäblich allerletzten Moment mit einem Satz in Sicherheit gebracht, wobei er gestürzt und die Kamera zu Bruch gegangen war. Der Film war verdorben, aber eine Laune des Zufalls hatte dafür gesorgt, daß ausgerechnet dieses eine Negativ noch zu gebrauchen gewesen war. Mogrod hatte Stunden in einem stinkenden Kellerloch zugebracht und darauf gewartet, daß ein Gesicht über dem Eingang erschien und ein Schuß fiel, der seinem Leben ein Ende setzte. Es war nicht geschehen. Später, als sich die Kämpfe in einen anderen Teil der Stadt verlagerten, hatte er es gewagt, sein Versteck wieder zu verlassen und die Leiche der jungen Frau gefunden. Sie war dem Panzer entkommen, aber offensichtlich nur, um wenige Augenblicke danach von einem Heckenschützen erschossen zu werden. Noch später, nachdem es ihm irgendwie gelungen war, den Jemen zu verlassen, hatte er jedem erzählt, daß der Panzer die Frau vor seinen Augen überfahren hätte. Wie sich herausstellte, hatte dies den Preis für das Bild allerdings nicht in die Höhe getrieben, sondern im Gegenteil dafür gesorgt, daß es unverkäuflich wurde.
Trotzdem war es sein persönliches Lieblingsbild. Vielleicht, weil dies seine erste wirkliche Berührung mit dem Tod gewesen war. Er hatte ihn unzählige Male miterlebt, unzählige Male fotografiert und dokumentiert, aber damals in Aden war er ihm so nahe wie nie zuvor gewesen. Der Panzer hatte ihn buchstäblich um Zentimeter verfehlt, und die junge Frau war tot. Manchmal fragte er sich ganz ernsthaft, ob sie vielleicht tot war, weil er lebte.
Er sah wieder auf die Uhr, Noch fünf Minuten. Fünfmal sechzig Sekunden, und sein Leben würde sich radikal ändern. Und diesmal würde er sich nicht kaufen lassen, wie damals vor sechs Jahren.