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Er stand auf, trug seine Tasse in die Küche zurück und spülte sie sorgsam aus, um auf diese Weise noch eine weitere Minute zu gewinnen. Als er in die Dunkelkammer zurückging und das Rotlicht aufleuchtete, war die Zeituhr beinahe abgelaufen. Er hätte die Filme jetzt gefahrlos herausnehmen können; einige Minuten Differenz nach oben oder unten machten bei dem modernen Material, mit dem er arbeitete, nicht viel aus.

Trotzdem wartete er ab, bis das leise elektronische Summen erklang, ehe er die beiden Behälter öffnete, die Filme herausnahm und in den Trockner gab. Das Rotlicht wäre stark genug gewesen, schon jetzt das eine oder andere auf den Negativen erkennen zu können, aber mittlerweile genoß Mogrod die Spannung regelrecht. Die wenigen Minuten, die er jetzt noch warten mußte, vertrieb er sich damit, den Projektor auszurichten, die Fotoschalen zu säubern und Papier bereitzulegen. Als er Entwickler, Fixierbad und Wasser bereitgestellt hatte, ertönte erneut ein leises Summen. Die Negative waren fertig.

Sorgfältig zerschnitt er die Filme in je sechs gleich lange Streifen, legte elf davon beiseite und spannte den ersten in den Projektionsapparat. Seine Finger zitterten nun doch leicht. Trotzdem arbeitete er präzise und mit der gewohnten Sicherheit und Routine - mit einer Ausnahme. Er belichtete nicht alle sechs Bilder nacheinander, sondern begann sie einzeln zu entwickeln. Er hatte Zeit, und er wollte den Moment genießen.

Der erste Filmstreifen zeigte nichts Besonderes: eine Außenansicht des Hauses, das in der Nacht nicht viel mehr als ein schwarzer Schatten mit hunderten rechteckiger leuchtender Augen gewesen war, einige Schnappschüsse der Menge, die sich nach Löbachs Selbstmord auf der verregneten Straße versammelt hatte, und den zertrümmerten Wagen, neben dem ein leichenblasser und sichtlich noch sehr junger Polizeibeamter im Rinnstein hockte und sich die Seele aus dem Leib kotzte - so ganz nebenbei ein guter Kandidat, um in seine Sammlung draußen im Wohnzimmer aufgenommen zu werden, aber mehr auch nicht. Gestern abend, als er es geschossen hatte, hatte er noch gehofft, es für ein paar Mark an irgendein Revolverblatt verkaufen zu können. Die Menschen liebten solche Horrorfotos.

Auch der zweite Negativstreifen war kaum ergiebiger - bis auf das letzte Bild. Mogrod war schon drauf und dran gewesen, in die U-Bahn zu steigen und nach Hause zu fahren, damit der Film rechtzeitig entwickelt war, um noch für irgendeine Morgenausgabe interessant zu sein, als Sendig angekommen war. Das Bild zeigte ihn, wie er in Abendgarderobe und dazu passendem nachmitternächtlichem Gesichtsausdruck aus dem Wagen stieg; und von diesem Moment an war Mogrod klar gewesen, daß es sich hier bestimmt nicht nur um einen ganz gewöhnlichen Selbstmord handelte. Im Gegenteil - er hatte sofort gewußt, daß hier etwas Großes im Gange war, etwas ganz Großes sogar. Nur hatte er selbst da noch nicht geahnt, wie groß.

Ohne daß es ihm bewußt war, begann er nun doch schneller zu arbeiten. Die Bilder, die vor seinen Augen auf dem weißen Papier auftauchten und allmählich an Tiefe und Schärfe gewannen, erzählten die Geschichte der vergangenen Nacht noch einmal nach. Natürlich hatte er sich sofort an Sendigs Fersen geheftet. Es war ihm nicht einmal sonderlich schwergefallen, in das Haus zu kommen, von dessen Balkon Löbach gesprungen war.

Er hatte die ersten sechs Negativstreifen fertig abgezogen und wandte sich dem zweiten, ohnehin interessanteren Film zu. Mogrod blickte unwillkürlich auf die Trocknertrommel, die sich mit einem leisen Summen drehte. Sämtliche anderen Aufnahmen zeigten Löbachs Wohnung selbst. Er hatte einen ganzen Film verschossen, und er hätte noch mindestens zwei oder drei weitere verbraucht, hätte er nicht ein Geräusch an der Tür gehört und es vorgezogen, sich aus dem Staub zu machen. Aber auch so war die Ausbeute gigantisch.

Mogrod arbeitete schnell und routiniert. Er brauchte kaum zehn Minuten, um die sechsunddreißig Bilder zu belichten, und zu seiner großen Freude stellte er dabei fest, daß nur eine einzige Aufnahme nichts geworden war. Er hatte die Wand, auf die Löbach mit seinem eigenen Blut das Wort AZRAEL geschrieben hatte, gleich viermal fotografiert. Drei Bilder waren erstklassig, doch auf dem vierten war irgendein Schatten. Vielleicht eine Verunreinigung auf dem Negativ, vielleicht sogar sein eigener Schatten, der vom Blitzlicht irgendwie reflektiert und verzerrt worden war. Auf jeden Fall war das Bild verdorben.

Vielleicht war es aber auch das Beste überhaupt.

Mogrod hatte bereits dazu angesetzt, das Bild aus der Schale zu nehmen und in den Papierkorb zu werfen, aber dann ließ er es doch wieder in die Flüssigkeit zurückgleiten und beobachtete gespannt, was weiter geschah. Das Bild war bereits jetzt überentwickelt; die Schattierungen und Nuancen, die gerade erst auf dem Papier aufgetaucht waren, begannen wieder zu verschwinden, während das Stück Papier seine Reise von strahlendem Weiß hin zu tiefstem Schwarz fortsetzte. Aber das, was eigentlich ein Fehler war, hatte auch einen erstaunlichen Effekt auf den Schatten. Irgendwie schien er... dreidimensionaler zu werden, als ginge auf dem Fotopapier etwas vonstatten, was dem Wort Entwicklung eine völlig neue Dimension verlieh. Und er war jetzt sicher, daß es tatsächlich sein Schatten war, den er versehentlich fotografiert hatte, denn die Form war zu eindeutig. Es war der Schatten eines Menschen, und schließlich war er der einzige Mensch in der Wohnung gewesen. Was nichts daran änderte, daß das Bild eine gewisse Eigendynamik hatte - und zudem unheimlich genug war, um zu Spekulationen nach Herzenslust anzuregen. Und bei der bizarren Atmosphäre, die in der Wohnung geherrscht hatte, sogar in ganz besonderem Maße. Mogrod beschloß, das Negativ auf jeden Fall aufzuheben. Man konnte nie wissen...

Auf der anderen Seite der Tür ertönte ein scharfer Knall, unmittelbar gefolgt vom Splittern von Glas und etwas, das sich wie ein ferner Schrei anhörte. Mogrod fuhr so erschrocken zusammen, daß er um ein Haar die Schale mit Entwicklerflüssigkeit vom Tisch gerissen hätte, drehte sich herum und trat zur Tür. Im allerletzten Moment fiel ihm ein, daß einige Bilder zwar belichtet, aber noch nicht entwickelt waren. Hastig drehte er sich noch einmal herum, legte die entsprechenden Blätter in eine lichtundurchlässige Schachtel und trat ein zweites Mal zur Tür. Der Knall und das Splittern hatten sich nicht wiederholt, aber er glaubte noch immer, so etwas wie einen Schrei zu hören.

Sein Blick huschte aufmerksam durch das Wohnzimmer, als er die Dunkelkammer verließ. Das Geräusch hatte sich angehört, als wäre es unmittelbar hinter der Tür erklungen, aber da mußte er sich wohl getäuscht haben. Alles hier sah genauso aus wie vor einer halben Stunde, als er dagesessen und darauf gewartet hatte, daß die Zeit verging. Was hätte es auch sein sollen? Er lebte allein hier, er hatte keine Haustiere, und an Poltergeister und ähnliches Zeug glaubte er nicht. Also war draußen auf der Straße etwas passiert.

Hastig trat er ans Fenster und sah auf die Straße hinab. Ja, irgend etwas... war dort unten. Er konnte im ersten Moment nicht genau sagen, was, aber da war eine Veränderung. Zu wenige Menschen, und so gut wie kein Verkehr. Und er konnte jetzt ganz deutlich hören, daß irgendwo jemand schrie. Dann sah er einen Mann, der mit weit ausgreifenden Schritten aus dem gegenüberliegenden Haus gerannt kam und nach links hastete, und gleich darauf einen zweiten. Etwas war passiert. Wahrscheinlich ein Unfall.

Mogrods allererster Gedanke war, seine Kamera zu nehmen und hinunterzulaufen. Unfälle waren immer gut für ein paar Mark, und normalerweise hätte er eine solche Chance, wie sie sich jetzt bot, kaum ungenutzt verstreichen lassen. Der Geräuschkulisse nach mußte es sich um etwas wirklich Großes handeln, vielleicht eine entgleiste Straßenbahn oder einen umgestürzten Tanklaster, aus dem Salzsäure lief, die ein paar Passanten ansengte. Außerdem wäre er garantiert der erste Fotograf vor Ort. Er war auch schon auf halbem Wege zur Tür, aber dann blieb er wieder stehen.