Plötzlich wurde ihm klar, wie närrisch er sich benahm. Wen interessierte ein umgestürzter Lastwagen oder eine entgleiste Tram? Das war Kleinkram. Er hatte es verdammt noch mal nicht mehr nötig, sich damit abzugeben. Gestern abend hätte er sich noch wie eine Hyäne darauf gestürzt, aber zwischen gestern abend und heute morgen lagen Welten. Gestern abend war er eine Hyäne gewesen. Jetzt war er ein Adler, der eine fette Beute erspäht hatte. Und er sollte allmählich damit anfangen, sich wie ein solcher zu benehmen.
Mogrod warf den Fotoapparat, den er ganz automatisch ergriffen hatte, schwungvoll in einen Sessel, machte sich wieder auf den Weg zur Dunkelkammer und drehte sich auf halbem Wege wieder herum, um zum Telefon zu gehen. Die Bilder liefen ihm nicht davon, und er würde jetzt etwas tun, worauf er sich seit Jahren gefreut hatte.
Der Lärm draußen auf der Straße hielt an, während er das Telefonbuch aufklappte und nach der Nummer suchte. Mogrod widerstand tapfer der Versuchung, aufzustehen und zum Fenster zu gehen, nahm sich aber nichtsdestotrotz vor, es nach seinem Telefonat nachzuholen. So, wie es sich anhörte, war dort unten wirklich etwas im Gange, das sich zu fotografieren lohnte.
Er hatte die Nummer gefunden, nahm den Telefonhörer ab und drückte mit der anderen Hand die Löschtaste des Anrufbeantworters, ohne die Nachrichten abgehört zu haben. Dann tippte er mit langsamen, fast zeremoniellen Bewegungen die Nummer ein und lauschte auf das Freizeichen.
Es klingelte dreimal, dann schaltete sich der Anrufbeantworter ein. »Guten Tag. Sie sind mit dem Anschluß 5630265 verbunden«, sagte eine volltönende Männerstimme. »Leider bin ich zur Zeit selbst nicht zu erreichen. Sie können aber, wenn Sie dies möchten, eine Nachricht beliebiger Länge hinterlassen. Ich rufe Sie dann so schnell wie möglich zurück. Bitte, sprechen Sie nach dem Signalton.«
Mogrod zog eine Grimasse. Er haßte Anrufbeantworter. Trotzdem wartete er geduldig, bis das elektronische Piepsen erklungen war, dann sagte er: »Hallo, Doktorchen. Hier spricht Mogrod. Stefan Mogrod - Sie erinnern sich doch noch an mich? Keine Angst, ich will nichts von Ihnen, und Sie brauchen mich auch nicht zurückzurufen. Aber kaufen Sie sich doch heute die Abendausgabe der POST. Sie werden darin etwas finden, was Sie bestimmt brennend interessiert.«
Er drückte auf die Gabel und hängte erst danach ein. Sosehr er sich noch vor zwei Sekunden über den Anrufbeantworter geärgert hatte - jetzt erschien es ihm eher positiv, seine Nachricht nur auf Band gesprochen zu haben, statt sich womöglich in ein Gespräch hineinziehen zu lassen, bei dem er mehr verriet, als er eigentlich wollte. Außerdem steigerte das die Spannung. Sein Name allein sollte ausreichen, demjenigen, der das Band abhörte, ein paar fröhliche Stunden zu bereiten. Wenigstens so lange, bis die Abendausgabe erschien. Und danach noch etliche weitere...
Er stand auf und wollte nun wirklich zum Fenster gehen, doch in diesem Moment erscholl aus der Dunkelkammer ein lautstarkes Klappern, das Mogrod wie elektrisiert zusammenfahren ließ. Er vergaß die beunruhigenden Laute auf der Straße augenblicklich und hetzte so schnell zur Dunkelkammer, daß er fast über seine eigenen Füße gestolpert wäre. Hastig riß er die Tür auf, schaltete das Licht ein und sah sich um.
Nichts.
Der Raum sah aus wie immer: winzig, überladen und düster, nicht ganz so sauber, wie er hätte sein können, und ein wenig unordentlicher, als er hätte sein müssen. Auf dem Boden lag nichts, und auch die Fotoschalen und das halbe Dutzend durchsichtiger Acrylboxen mit seinen diversen Utensilien standen ordentlich aufgereiht da, wo sie hingehörten. Er mußte sich das Geräusch wohl eingebildet haben. Nun, bei dem, was für ihn auf dem Spiel stand, hatte er das Recht, ein bißchen nervös zu sein. Einbildung, mehr nicht.
Trotzdem schloß er sorgsam die Tür hinter sich und unterzog den Raum einer zweiten, gründlicheren Inspektion, die allerdings zu keinem anderen Ergebnis führte als die erste. Hier war weder etwas um- noch heruntergefallen.
Wenn er schon einmal hier war, konnte er seine Arbeit auch zu Ende bringen. Behutsam öffnete er die Schachtel mit den noch nicht entwickelten Bildern und ließ sie eines nach dem anderen in die Fotoschalen gleiten. Sie zeigten weitere Ansichten von Löbachs Wohnung - die Küche, die Müllkippe, in die er sein Wohnzimmer verwandelt hatte, das auf so unheimliche Weise veränderte Bad, und als allerletztes noch einmal die blutige Schrift an der Wand. Azrael... Wenn er nur wüßte, wo er dieses Wort schon einmal gehört hatte.
Mogrod fixierte die Bilder, gab sie in den Trockner und befestigte die übrigen gut zwanzig Abzüge, die er schon fertiggestellt hatte, an der Pinnwand neben der Tür. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß kein unbelichtetes Fetzchen Papier mehr irgendwo herumlag, schaltete er das Rotlicht aus und die Deckenbeleuchtung ein. In der im ersten Moment fast unangenehmen Helligkeit der beiden Neonröhren besah er sich die bisher fertiggestellte Kollektion kritisch. Das Haus, die Polizeibeamten, Sendig, die unvermeidlichen Gaffer und schließlich Löbachs Horrorapartment... ideal. Die perfekte true story, wie die Leute sie liebten, ob sie nun wirklich true war oder nicht.
Dabei waren die Bilder für sich allein betrachtet noch nicht einmal so sensationell. Löbachs Selbstmord würde ohne diese Fotos spätestens morgen früh und mit ihnen spätestens übermorgen früh keinen mehr wirklich interessieren - aber er hatte mehr als diese Bilder. Er kannte die Geschichte, die dahintersteckte. Die wahre Geschichte. Er wußte, warum Löbach sich umgebracht hatte, und er wußte sogar, wie; zumindest hatte er eine Theorie, die der Wahrheit sehr nahe kommen mußte. Und diese Nachricht würde einschlagen wie eine Bombe.
Der Trockner summte. Mogrod nahm die letzten sechs Abzüge heraus und befestigte sie neben den anderen an der Pinnwand. Als er es getan hatte und sich wieder herumdrehte, streifte sein Blick eine der Plastikschalen auf dem Tisch.
Mogrod blieb stehen und runzelte überrascht die Stirn. In der Entwicklerflüssigkeit schwamm noch immer der fehlerhafte Abzug, den er sich vorgemerkt hatte, um ihn zu einem Gespensterfoto für irgendein Revolverblatt zu machen. Er befand sich seit einer guten halben Stunde darin und hätte eigentlich so schwarz sein sollen, wie es nur ging, und zum allergrößten Teil war er das auch.
Aber eben nur zum allergrößten Teil. Neunundneunzig Prozent des Bildes glänzten im tiefsten Schwarz, das man sich nur vorstellen konnte. Aber da war noch etwas - eine haarfeine helle Linie, ungefähr dort, wo er den Schatten gesehen zu haben glaubte. Vielleicht nur ein weiterer Fehler. Ein Haar, das während der Belichtung auf das Blatt gefallen war, ein Staubpartikel auf der Linse oder eine Verunreinigung im Negativ. All das und noch viel mehr hätte es sein können - aber irgend etwas sagte ihm, daß das nicht die wirkliche Erklärung war. Wenn man lange genug hinsah, dann schien diese dünne Linie tatsächlich die Umrisse einer menschlichen Gestalt nachzuzeichnen: ein nachtschwarzer Schatten, der vor einer starken, aber weit entfernten Lichtquelle stand und sie beinahe vollständig verdeckte, so daß er eine leuchtende Korona bekam wie der Mond bei einer Sonnenfinsternis.
Er würde der Sache jetzt auf den Grund gehen. Mogrod nahm das Foto aus der Schale, legte es ins Fixierbad und wusch sich rasch, aber sehr gründlich die Hände, ehe er die Filmstreifen zur Hand nahm und das entsprechende Negativ heraussuchte. Er untersuchte es, ohne irgendeine Besonderheit zu entdecken, schaltete das Licht aus und machte einen weiteren Abzug. Diesmal achtete er peinlich genau darauf, keinen Fehler zu machen.